Seltene Erkrankung
Was bleibt, ist ihr Lächeln: Ein Gendefekt verändert Emilias Leben
28. Dezember 2024, 15:00 Uhr
Ein Mehrfamilienhaus in Dingolfing an einem grauen Dezembertag. Draußen hat es gerade aufgehört zu regnen, irgendwo in der Nachbarschaft spielen Kinder Fußball. Drinnen öffnet ein kleiner Junge mit einer runden, blauen Brille die Tür: "Hallo, kommt rein, Schuhe dahinstellen und dann durchgehen." Er deutet den Gang entlang. David ist sieben Jahre alt, hat Trisomie 21 und besucht die Inklusionsklasse einer Dingolfinger Grundschule. In dieser Angelegenheit soll es allerdings nicht um David gehen, sondern um seine Schwester Emilia, die gerade von einer Pflegerin an den Esstisch geschoben wird.
David verschwindet in seinem Zimmer, setzt sich auf den Teppich und spielt mit einer Holzeisenbahn. Dorota Zlotek, die Mutter der beiden, beginnt aus dem Leben ihrer Tochter zu erzählen. Gemeinsam mit ihrem Mann Krzysztof ist Dorota vor gut dreizehn Jahren von Polen nach Deutschland gezogen. Schnell leben sie sich ein, Krzysztof findet einen Job, das junge Paar bekommt eine Tochter. "Emilia war ein aufgewecktes, sehr lustiges Kind. Sie hat so gerne und viel gelacht", beschreibt Dorota die heute verblasste Unbeschwertheit ihrer Tochter.
Bis zu diesem einen Tag im Juli. Emilia ist sechs Jahre alt, bald kommt sie in die Grundschule. Im Kindergarten steht eine Musikaufführung an. Wenn Dorota sich daran erinnert, kämpft sie mit den Worten und gegen die Tränen: "Sie sollten etwas vorspielen. Aber Emilia ist hingefallen. Dann bekam sie einen epileptischen Anfall." Aus einem späteren Anfall kommt sie nicht mehr raus. Sie verbringt ein ganzes Jahr in Narkose, weil die Ärzte nicht weiterwissen. Nach zwei Jahren in diversen Kliniken stellen sie fest: Emilia hat einen seltenen Gendefekt.
Weltweit gibt es grob geschätzt eine Hand voll Betroffener, bei denen ebenfalls eine sogenannte DMN1L-Mutation nachgewiesen wurde. Dass dieser Fehler im System eines Tages vollständig Besitz von Emilia ergreifen würde, konnte keiner ahnen. Doch es gab Anzeichen dafür.
Eine verkehrte Welt namens Alltag
"Sie hatte Schwindelattacken und Gleichgewichtsstörungen. Seit Januar hat ihre Hand beim Malen gezittert. Natürlich bin ich mit ihr sofort zum Arzt. Und wurde nur als hysterische Mutter abgestempelt", blickt Dorota Zlotek auf die Zeit zurück, in der sich der lebensverändernde Einschnitt langsam anschlich.
Als David seine große Schwester damals im Krankenhaus besucht, überfordern ihn die Geräte und Geräusche, die sie Tag für Tag umgeben. Er bekommt Angst, kann die Situation nicht einschätzen, weiß nicht, was mit Emilia los ist. Früher hat Emilia auf ihren kleinen Bruder aufgepasst. Heute ist es umgekehrt.
Emilia sitzt währenddessen am Tisch, sie blickt mit ihren braunen Augen direkt in das Gesicht ihres Gegenübers. Zwischendurch schmunzelt sie immer wieder. Was sie dabei denkt, fühlt, hofft, weiß keiner. Unter dem Trompetenärmel ihres Oberteils mit den zarten rosa Blüten lugt ihre kleine Hand hervor. Sie liegt schlaff auf ihrem Oberschenkel, die Fingernägel sind rosa lackiert - wie es ein neunjähriges Mädchen eben schön findet. Mehrmals krampft ihr kompletter Arm. Ihre Mutter Dorota hält ihre andere Hand, tätschelt ihr den Handrücken, wenn sie über und für Emilia spricht. Im Hintergrund piepsen ab und zu die Geräte, die an der Rückseite ihres Rollstuhls angebracht sind.
Pflegerin Gabriele Grasse sitzt ruhig neben den beiden und geht ihrem Job nach: Sie weicht nicht von Emilias Seite und weiß ganz genau, wann sie welche Infusion benötigt, wie oft die Luftröhrenkanüle gewechselt werden muss, wie das Beatmungsgerät funktioniert, das Emilia nachts in ihrem Kinderzimmer braucht. Dass Fachkräfte wie Gaby und der Rest ihres Teams vom Pflegedienst Nightingale rund um die Uhr für Emilia sorgen, war nicht immer so.
In den ersten zwei Monaten nach ihrer Rückkehr in ihr Zuhause waren ihre Eltern auf sich allein gestellt. Um nicht zu sagen: Sie wurden allein gelassen. Die komplette Wohnung musste umstrukturiert werden, die Pflege der Tochter bestimmte den Alltag. Um David muss sich nebenbei auch noch jemand kümmern. Krzysztof geht arbeiten, für Dorota kommt das in den nächsten Jahren nicht infrage.
In Deutschland ist eine spezielle Qualifikation erforderlich, um als Intensivpflegedienst auch Kinder betreuen zu dürfen. Allein deshalb scheiden schon viele Anbieter aus. "Bei mir ist dann ein Patient verstorben. Nur deswegen kann ich mich heute um Emilia kümmern", führt Gaby Grasse aus. Dabei will sie die Neunjährige nicht nur pflegen, sondern ihr auch Momente des Glücks ermöglichen. Beispielsweise mit einem Besuch auf dem Reiterhof.
"Dabei merkt man, dass sie schon noch am Leben teilnimmt. Die Ausflüge gefallen ihr", erklärt Grasse. Die Kosten für das behindertengerechte Taxi muss die Familie selbst tragen. Ebenso für die Arztbesuche, Therapien, Medikamente - selbst die Finanzierung des 24-Stunden-Intensivpflegedienstes wird nicht komplett von der Krankenkasse übernommen.
Keine Studien, keine Aussichten, keine Hilfe
Aus diesem Grund sind an diesem Tag Manuel Geweiler und Christopher Freund vom Verein Herzenssache Kinderhilfe e. V. zu Besuch. Sie wollen Familie Zlotek in Zukunft zumindest finanziell durch Spenden entlasten.
Der Traum wäre es, endlich ein eigenes behindertengerechtes Auto zu besitzen. "Aber selbst kleinere Spenden würden bereits helfen, um ab und zu Unternehmungen zu finanzieren oder vielleicht sogar eine tiergestützte Therapie", findet Gabriele Grasse.
Wie lange Gaby noch zu den Zloteks kommt, weiß keiner. Zu Emilias Gendefekt gibt es keinerlei deutsche Studien, nur wenige amerikanische. Aber auch die sagen nicht mehr aus als eine ungewisse Zukunft. Daher fehlt die Unterstützung auf vielen Ebenen: Keine Studien, keine Aussichten, keine Hilfe. "Aber wir kämpfen immer weiter", sagt Dorota entschlossen. Auf die Frage nach ihrem größten Weihnachtswunsch antwortet Dorota Zlotek: "Noch ganz viel gemeinsame Zeit." Und ihre Tochter Emilia lächelt.
Freude durch Helfen
Die Spendenaktion "Freude durch Helfen" der Mediengruppe Attenkofer unterstützt zügig und unbürokratisch bedürftige Menschen aus der Region - wie Emilia und ihre Familie. Das gespendete Geld kommt seit mittlerweile über 20 Jahren genau da an, wo Hilfe nötig ist.
Wer die Aktion - und damit die betroffene Familie - unterstützen möchte, kann dies unter folgenden Bankverbindungen tun:
Empfänger: "Landshuter Zeitung - Straubinger Tagblatt hilft e.V."
Sparkasse Niederbayern-Mitte
IBAN: DE72 7425 0000 0000 0224 42
BIC: BYLADEM1SRG
Raiffeisenbank Straubing
IBAN: DE29 7426 0110 0005 5177 70
BIC: GENODEF1SR2