Essay
Wie man Strategien der Rechtspopulisten entlarven kann
9. November 2024, 11:38 Uhr
Die Ereignisse sind bekannt: In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brach über den jüdischen Teil der Bevölkerung im Deutschen Reich die schiere Gewalt herein: Die „Reichspogromnacht“ markiert den Punkt, an dem die Diskriminierung und der Ausschluss der Juden aus dem öffentlichen Leben in die Phase organisierter Vertreibung und Vernichtung übergingen.
„Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ Victor Klemperer
Heute sehen wir die Bilder der brennenden Synagogen und lesen, dass rund 1.500 Menschen bei den Novemberpogromen oder in ihrer Folge gestorben sind, rund 35.000 Juden in Konzentrationslager gebracht wurden, aus denen sie sich „freikaufen“ mussten. Verharmlosend wurde die Nacht vom 9. November auch als „Reichskristallnacht“ bekannt.
Doch wie konnte es dazu kommen? Studien zufolge sollen sich rund zehn Prozent der Bevölkerung an den Pogromen beteiligt haben. Warum hat niemand eingegriffen, warum haben viele zugesehen und mitgemacht?
Die Pogrome waren „verordnet“, auch wenn die Nationalsozialisten versuchten, sie als „spontane“ Reaktion des Volkes darzustellen. Am 7. November hatte ein 17-jähriger Jude in Paris einen Mitarbeiter der Deutschen Botschaft niedergeschossen, als Rache an der Deportation seiner Familie aus Deutschland nach Polen. Zwei Tage später nahmen Goebbels und Hitler das Pariser Attentat zum Vorwand, um den Mob im Deutschen Reich zu aktivieren. Goebbels verfügte nach Absprache mit Hitler: „(…) soweit sie (Aktionen gegen Juden, Anm. d. Red.) spontan entstünden, sei ihnen (…) nicht entgegenzutreten.“ Daraufhin erteilten Gauleiter, SS- und SA-Gruppenführer ihren Mitgliedern den Aufruf zur Gewalt.
1938 waren Diskriminierungen und willkürliche Gewalt gegen Juden und Andersdenkende schon seit Jahren an der Tagesordnung. Wer erst nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, fragt sich unweigerlich, wie es sein konnte, dass die Bevölkerung toleriert hat, wie Menschen aus ihrer Mitte entrechtet, misshandelt, deportiert und schließlich ermordet werden konnten, ohne dass sich ihre Mitmenschen dagegen auflehnten.
„Am Anfang ist das Wort“
In seinem Dokumentarfilm "Strange Victory" von 1948 zeichnet der US-amerikanische Filmemacher Leo Hurwitz die Geschichte des „Dritten Reichs“ in einer Schnellfassung nach. Hurwitz wirft den USA Heuchelei vor, denn im eigenen Land waren damals die Werte noch nicht umgesetzt, die in Europa im Kampf gegen den Faschismus verteidigt worden waren. Er bezieht sich dabei vor allem auf die Rassentrennung und Alltagsdiskriminierung von nicht-weißen Menschen.
Hurwitz Film ist ungewöhnlich, nicht nur weil er einer der ersten Anti-Rassismusfilme überhaupt sein dürfte, sondern auch wegen seiner Ästhetik: Das Filmmaterial stammt aus unterschiedlichsten Quellen, manchmal sind es Filmsequenzen, manchmal nur Bilder, die zu einem Bewusstseinsstrom werden, während eine Erzählerstimme zum Zuschauer spricht und aus den Bruchstücken ein logisches, eindringliches Argument werden lässt.
So mahnt die Stimme in diesem Kompilationsfilm, sich an den Zweiten Weltkrieg zu erinnern: „Erinnerst du dich, wie es war? Berlin – das Herz der Idee, dass alle Menschen ungleich sind.“ Man sieht die vom Krieg zerstörten deutschen Städte, von rauchenden Häuserruinen begrenzte Straßen, durch die einzelne Menschen laufen, darunter alliierte Soldaten, die Nazis suchen. „Wir haben bezahlt. Jeder hat bezahlt.“
In einer längeren Filmsequenz aus Wochenschau-Szenen und Aufnahmen der Alliierten beschreibt der Erzähler, wie dieser „Plot gegen die Menschheit“ geplant und umgesetzt wurde: „Am Anfang ist das Wort. Es beginnt mit einem Wort über ausländische Verschwörungen, Feinde im Innern, Rassen, Glaubensbekenntnissen – am Anfang ist das Wort, eine Lüge. Doch bevor die Lüge geglaubt wird, muss Hoffnungslosigkeit herrschen und Hunger. Füge den notwendigen Hass hinzu. Finde ein leichtes Ziel und gib ihm die Schuld an allem.“
Der Film zeigt, wie konsequent jüdische Menschen ausgegrenzt und stigmatisiert wurden, während der Erzähler fortfährt, die NS-Strategie zu beschreiben: „Erfinde ein Schreckgespenst (…). Verwende moderne Medien (…). Die Lüge geht in einer einseitigen Unterhaltung hinaus zu ihnen, sie geht überall zugleich hin und die Stimme hat Autorität.“ Die Gerüchte werden weitergetragen: „Am Anfang ist das Wort, und das Geflüster verbreitet sich auf kleinen Wegen.“ Das Wort, das die Lügen verbreitet, es verbreitet sich wie eine Epidemie. Mit Verleumdung und Abwertung begann die Vernichtung, in den Konzentrationslagern wurde sie beendet.
Der Film von Leo Hurwitz stieß 1948 in den USA nicht auf viel Gegenliebe. Heute ist er aktueller denn je. Denn das Vorgehen von Rechtspopulisten ebnete in den USA wie auch in Europa erneut den Weg für die Spaltung und Verunsicherung der demokratischen Gesellschaft – genau in einer Zeit, wo sie eine Krise nach der nächsten zu bewältigen hat.
Ab- und Ausgrenzung: Rechtspopulismus heute
Die Schweizer Soziologin Franziska Schutzbach durchleuchtet in ihrem Buch "Rhetorik der Rechten: Rechtspopulistische Diskursstrategien im Überblick" 20 charakteristische Strategien, wie Rechtspopulisten in Europa ihre Inhalte und Sprache in die Gesellschaft tragen. Anders als noch in den 1930er-Jahren aber sind diese Strategien heute nicht immer sofort als extreme „Außenseiter“-Positionen erkennbar. Im Gegenteil: „Viele Rechtspopulisten geben sich nicht (mehr) als Außenseiter vom rechten Rand, sondern als Verteidiger der liberalen Demokratie“, schreibt Schutzbach. Dadurch, dass Grenzen zwischen den Positionen, aber auch zwischen Form und Inhalt verwischen, sei der Rechtspopulismus „gesellschaftsfähig und mit der bürgerlichen Mitte kompatibel“.
Doch der Wesenskern des Rechtspopulismus – und des Rechtsextremismus – besteht weiterhin in der Abgrenzung zwischen „uns“ und „den Anderen“, und der Ausgrenzung einzelner Gruppen, die angeblich nicht zu „uns“ gehören. Oft wird dabei vorgegeben, „das Volk“ gegen „die Eliten“ oder gegen „das Establishment“ zu vertreten. „Das Volk“ wird dabei als homogene Gruppe angesehen, nie in der tatsächlichen Vielfalt unserer modernen demokratischen Gesellschaft – zugleich ist der Begriff flexibel genug, immer diejenigen auszuschließen, die anderer Meinung sind. Das Schüren von Konflikten, nicht die Suche nach einem Konsens, ist Teil der rechtspopulistischen Strategie.
Die „Anderen“: Ausländer, Flüchtlinge und Migranten
In seinen Aufzeichnungen, die er während der Herrschaft des NS-Regimes verfasste, dokumentierte der Literaturwissenschaftler Victor Klemperer, wie er aufgrund seiner jüdischen Herkunft früh ausgegrenzt wurde: „Man ist „artfremd“ bei 25 Prozent nichtarischen Blutes“, notierte er. Wenn Zweifel bestünden, „entscheidet der Sachverständige für Rassenforschung“.
In der Nachkriegsgeschichte des Rechtspopulismus werden vor allem Ausländer, Flüchtlinge oder Migranten zur Ab- und Ausgrenzung benutzt. Schutzbach beschreibt, wie sich dies anfangs in der Schweiz mit James Schwarzenbachs „Überfremdungs-Initiative“ ab 1970 etablieren konnte und als Topos später von anderen Parteien in Europa übernommen wurde. Anders als der klassische Rassismus sprechen die heutigen Rechtspopulisten nicht mehr von „Rassen“, sondern von „kultureller Identität“, die angeblich nicht zur jeweiligen „Leitkultur“ eines Landes passe.
Schutzbach schreibt, der von Rechtspopulisten propagierte „Ethnopluralismus“ klinge erst einmal besser als Rassismus. Doch mit diesem Begriff werde auch festgelegt, dass „jeder Mensch eine bestimmte, feste kulturelle und ethnische Identität habe“. Aufgrund dieser Tatsache, so folgern rechtspopulistische Ethnopluralisten, würde es unweigerlich zu Konflikten kommen, wenn sich verschiedene „Kulturen“ treffen – weshalb es besser sei, sie zu trennen. „Der Ethnopluralismus sagt, zu Ende gedacht, dass es erfolgreiche Integration niemals geben kann“, folgert Schutzbach.
Eine weitere Strategie sei es, sachliche Argumente zu vermeiden und stattdessen Emotionen, vor allem Angst, zu schüren. Dies zeigt Franziska Schutzbach etwa am Beispiel des Themas „Gewalt gegen Frauen“, die von Rechtspopulisten vor allem als „Problem von Migration und ausländischen, konkret: muslimischen Tätern“ dargestellt wird. Zwar wird damit Gewalt gegen Frauen benannt, aber eben auch einer ethnischen Gruppe zugeordnet, die ausgegrenzt werden soll – während die von einheimischen, deutschen Tätern verübte Gewalt gegen Frauen vollkommen ignoriert wird.
Wie das funktioniert, kann man an Donald Trumps Aussagen erkennen, der selbst einerseits des sexuellen Missbrauchs für schuldig befunden wurde, andererseits aber während seines Wahlkampfes behauptete, er werde Frauen „beschützen – ob sie es wollen oder nicht“. Anhänger von Trump können so jederzeit sagen, es gehe um den „Schutz“ von Frauen, auch wenn Trump eigentlich etablierte Frauen- und Bürgerrechte außer Kraft setzen will.
Wenn Emotionen zu wecken Priorität hat, rückt der Wahrheitsgehalt von Aussagen in den Hintergrund: Rechtspopulisten setzen daher „nicht auf Belegbarkeit und Fakten – diese werden vielmehr bewusst umgangen“, schreibt die Schweizer Soziologin. Dafür muss die Angst aufrechterhalten werden, denn sie gewährleistet Aufmerksamkeit – in den Medien und bei der Zielgruppe. Schutzbach erwähnt in diesem Zusammenhang das ultrakonservative Lobby-Netzwerk „Agenda Europe“, das seinen Mitgliedern empfiehlt, „keine Angst davor zu haben, unrealistisch oder extremistisch zu sein.“
Von öffentlicher Meinung zu politischer Macht
Es geht um Aufmerksamkeit um jeden Preis: Die Schweizer Soziologin erläutert, dass Rechtspopulisten immer zuerst „einen Kampf um das Monopol der öffentlichen Meinung führen“ und damit „den Resonanzraum für rechtes Gedankengut“ erweitern, und erst in einem zweiten Schritt versuchen, politische Macht zu erlangen.
Dabei wird auch die Grenze des Sagbaren immer weiter nach rechts verschoben. Sexualisierte Gewalt gibt es, aber sie einseitig Muslimen zur Last zu legen, ist falsch. Rechtspopulisten behaupten, dass „die Wahrheit“ tabuisiert werde, wo es aber um Kritik an ihrem Pauschalurteil geht. Denn in Wahrheit beruhen die Grenzen des Sagbaren auf einem gesellschaftlichen Konsens, der immer wieder neu verhandelt wird: Als Tabu gelten in unserer Demokratie mittlerweile diskriminierende Äußerungen, aber nicht, über die eigentlichen Themen zu sprechen.
Die jüngsten Wahlerfolge rechtspopulistischer Politiker zeigen, dass sich ein Teil der Öffentlichkeit dennoch gegen die Fakten entscheidet. Die rassistischen Aussagen von Donald Trump über haitianische Migranten, die Haustiere stehlen und essen würden, scheinen ihm politisch ebensowenig geschadet zu haben wie die Ankündigung, seine politischen Gegner mit dem Justizsystem verfolgen und das Militär auch im Innern gegen die eigenen Bürger einsetzen zu wollen.
Rechtsextreme Verschwörungstheorien
Während des Schreibens dieses Textes wurde Donald Trump erneut zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt – und das, obwohl er zuvor gedroht hatte, dass im Falle seiner Niederlage die Demokratie in den USA enden würde. Der rechtsextreme AfD-Fraktionsvorsitzende im Thüringer Landtag, Björn Höcke, hat Trump zur Wiederwahl beglückwünscht. Höcke hat bereits 2018 in seinem Buch "Nie zweimal in denselben Fluss" seine rechtsextreme Weltanschauung einschließlich Verschwörungstheorien à la „Volkstod durch Bevölkerungsaustausch“ und „brutaler Verdrängung der Deutschen aus ihrem angestammten Siedlungsgebiet“ dargelegt. Dennoch erzielte die AfD in Thüringen einen historischen Erfolg.
Victor Klemperer erwähnt in seinem Buch "LTI. Lingua Tertii Imperii" über die Sprache des Nationalsozialismus, dass Hitlers Buch "Mein Kampf" schon 1925 erschienen war, Jahre vor seiner Machtergreifung. „Es wird mir immer das größte Rätsel des Dritten Reichs bleiben, wie dieses Buch in voller Öffentlichkeit verbreitet werden durfte, ja musste“, schreibt Klemperer, „und wie es dennoch zur Herrschaft Hitlers und zu zwölfjähriger Dauer dieser Herrschaft kommen konnte, obwohl die Bibel des Nationalsozialismus schon Jahre vor der Machtübernahme kursierte.“
Wenn wir doch nur lernen würden, welche Macht Worte haben, damit wir nicht eines Tages erneut dafür bezahlen müssen, nicht hingehört zu haben.
(Der Artikel erschien am 9. November 2024 im "Magazin zum Wochenende".)