Kultur
Wehmut der Babyboomer
12. April 2023, 14:41 Uhr
Es ist Liebe auf den ersten Raubüberfall. Das hübsche Landei Sherrie ist gerade erst mit dem großen Traum von einer Hollywood-Karriere in Los Angeles eingetroffen und schon entreißt ihr ein Bösewicht brutal die Handtasche. Drew, der Toilettenmann im Club The Bourbon Room, hilft ihr auf und fragt: "Bist du in Ordnung?", und sie antwortet "Nein, ich bin Sherrie". Wenn sich die beiden nach zweieinhalb Stunden Musical endlich kriegen, fragt Lonny (Timothy Roller), der Erzähler, ob man sich das am Anfang hätte vorstellen können.
"Haben wir" denkt man sich unten im Saal, denn die Frage ist natürlich rein rhetorisch. Alles an "Rock Of Ages" ist absehbar und Buchautor Chris D'Arienzo hat das so gewollt. Die Story häuft enthemmt die landläufigsten Klischee über ein Phänomen zusammen, das zu den Achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gehört wie Helmut Kohl oder Lady Di: Die Rockmusik mit ihren speziellen Ausprägungen Hard-Rock und Glam-Rock. Die entwickelten sich bereits im Jahrzehnt davor, woran das gelegentliche Anspielen der Brüll-Hymne "Cum On Feel The Noiz" der britischen Band Slade erinnert.
"Rock Of Ages" ist ein Jukebox-Musical und deshalb eine Folge bekannter Songs, an denen eine Handlung entlang führt. 2005 wurde es in L. A. uraufgeführt, kam später auf den Broadway und wurde 2012 mit Tom Cruise als exzentrischer und am Ende der Karriere stehender Rockstar Stacee Jaxx nicht besonders erfolgreich verfilmt. Der Österreicher Alex Balga hat das Musical nun neu und mit deutschen Dialogen für eine Tournee inszeniert, die im Deutschen Theater startet. Dort war bis letzte Woche auch Balgas Einrichtung von "Dirty Dancing" zu sehen.
Spielte dieses wiederum auf einem Film basierende Tanzstück während der als gut erzogen erinnerten Sechziger bei Sommerferien in den Bergen mit den Eltern, genießt das Rock-Spektakel Sex und Drogen aufgekratzt im hedonistischen Großstadtmoloch.
Ihren ersten Arbeitstag als Kellnerin in der Rocker-Bar fasst Sherrie beeindruckt zusammen: "Rock und Urin". Gespielt wird sie von der Südtirolerin Julia Taschner, die in der hiesigen Theaterakademie August Everding studierte.
Die Unschuld vom Lande legt sie schnell ab und wird zur kämpferischen Überlebenskünstlerin. Sie gefällt stimmlich in beiden Diszplinen des Genres: Schnörkellose Härte bei den Uptempo-Nummern, zarter Schmelz bei den melodisch weit schwingenden Balladen. Der nette Drew braucht länger, um endlich vom verunsicherten Träumer zum selbstbewussten Gitarrenhelden zu werden. Felix Freund sieht und hört man auf diesem Weg gerne zu.
Das vom bizarren Altstar Stacee (Sascha Lien) und schweizerischen Städteplanern Franz (Jakob Winsperger) und Hertz Kleinmann (Benjamin Hauschild) immer wieder bedrohte Liebespaar bleibt auch weitgehend verschont vom ansonsten verordneten Overacting. Aber das Zuviel von Allem ist Teil des Konzepts - nicht nur zu viel Gestik, sondern auch zu viel Frisur, zu viel schrille Klamotten und ziemlich viel Sentimentalität für einen so großen Haufen harter Jungs.
Einen überraschend anderen Sound bringt dennoch Amanda Whitford mit warmer Soul-Röhre als herzensgute Puffmutter Justice ein.
Eine Hommage an alte Zeiten ist das Werk freilich nicht. Die fast schon punkige Durchgeknalltheit, mit der das tönende Pathos jener Ära sowohl mit schrillem Blödsinn als auch ätzender Ironie zerlegt wird, lässt jeden der Baby-Boomer und natürlich auch die Boomerinnen im Publikum selbst entscheiden, wie viel nostalgische Wehmut die Töne von vor 40 Jahren noch bedeuten: Das schmachtende "I Wanna Know What Love Is" von Foreigner, das euphorische "We Built This City" von Starship oder die triumphierenden Fanfaren in "The Final Countdown" von Europe zum Beispiel.
Deutsches Theater, bis 16. April, montags bis samstags 19.30 Uhr, samstags auch 15 Uhr, sonntags 14.30 und 19 Uhr, wieder im Mai 2024, Telefon 55234444