Kultur
Unverbesserliches Meisterwerk
29. Januar 2023, 16:44 Uhr aktualisiert am 30. Januar 2023, 15:25 Uhr
Die endgültige Gottwerdung des Bob Dylan begann 1997. Da änderte das Album "Time Out Of Mind" alles. In den Jahren zuvor war sein Ruhm blasser geworden, so blass wie noch nie, seit er in den Sechzigern zum Superstar geworden war. In der ersten Hälfte der Neunziger hatte er zwei Alben mit alten Folksongs aufgenommen, die nicht allzu viele Menschen interessierten, und wer ihn Mitte der Neunziger vor wenigen Tausend Leuten in Orten wie Fürth spielen sah, hatte nicht zwingend das Gefühl, eine überlebensgroße Figur vor sich zu haben.
Heute dagegen schwebt er in einer eigenen Sphäre, als Literaturnobelpreisträger, als Musikgott, dem die Kritiker selbst dann huldigen, wenn seine Werke eher von irdischer Güte sind wie zuletzt das Buch "Die Philosophie des modernen Songs". Doch ohne "Time Out Of Mind" wäre diese Apotheose wohl ausgefallen.
Für dieses Album hatte sich Dylan nochmal mit dem kanadischen Meisterproduzenten Daniel Lanois zusammengetan, der U2 und Peter Gabriel zu Superstars gemacht hatte. Dylan hatte mit ihm nach einer Schwächephase in den Achtzigern das großartige "Oh Mercy" aufgenommen, das ihn allerdings nicht dauerhaft aus dem Karrieretief führte, da das im Folgejahr von Don Was, David Was und ihm selbst produzierte "Under The Red Sky" umso misslungener war. Und dann veröffentlichte er erst mal gar keine neuen Songs mehr.
1996 ging Dylan dann mit Daniel Lanois in dessen Studio in Kalifornien. Die Sessions liefen großartig, wie dieser kürzlich im AZ-Interview erzählte, doch dann hatte Dylan einen Sinneswandel: Er wolle lieber in Miami aufnehmen. "Bob will aus den Leuten das Beste herausholen", erklärte Lanois, "und das macht er, indem er sie in eine ungewohnte Umgebung versetzt." Der Produzent ließ sein Equipment knapp 3000 Kilometer durch die USA karren und bestellte ein paar seiner Lieblingsmusiker nach Florida. Dylan tat dies allerdings ebenfalls, und so saßen bei den Sessions ein Dutzend Instrumentalisten, darunter allen Ernstes: sechs Gitarristen.
Doch das Ergebnis war nicht das erwartbare Chaos, sondern eine wunderbare Schöpfung: Die Musiker spielten brillant reduziert und harmonierten blendend, Dylan hatte geniale Songs geschrieben und sang wie ein alter Bluessänger über Leben und Tod, über Verzweiflung, über Liebe und andere Fährnisse dieser Welt und klang, als ob er mit mindestens einem Bein in einer anderen stand.
Seinem Produzenten hatte er vor den Sessions frühe, mit einfachen Mitteln aufgenommene Rock'n'Roll-Platten vorgespielt, deren direkter, frischer Sound ihm vorschwebte. Doch Daniel Lanois wollte den Geist dieser Musik auf eigene Weise und mit moderner Technik einfangen. Er legte den Schlagzeugern Jim Keltner und Brian Blade vorproduzierte Drums-Loops auf die Kopfhörer, damit sie anders spielten als sonst.
Er setzte Hall, Echo und andere Effekte ein - doch vor allem mischte er das Album auf so geniale wie radikale Weise. Er rückte oft genau die Instrumente in den Vordergrund, die konventionellere Produzenten ignoriert hätten: Dylans schroffe E-Gitarre bei "Standing In The Doorway" oder Augie Meyers' monotone Orgel bei "Love Sick". Andere Instrumente wurden ganz im Mix vergraben oder waren eher leise im Hintergrund zu hören. Diese unorthodoxe Tiefenstaffelung sorgte für einen einzigartigen Sound und Dylans Songs erstrahlten in düster-majestätischer Schönheit.
Die Urteile waren seither einhellig: Das Album ist ein Meisterwerk, auf einer Stufe mit Dylans historischen Platten. "Time Out Of Mind" gewann drei Grammys, unter anderem als Album des Jahres, und Dylan galt seitdem nicht mehr als lebende Legende, sondern als legendärer, künstlerisch höchst lebendiger Großmeister. Nur einer war offenbar nie ganz glücklich mit dem Album - er selbst.
Und darum hat Dylan nun unternommen, was er in seiner 62-jährigen Laufbahn noch nie getan hat: Er ließ "Time Out Of Mind" neu mischen. Auf "Fragments", der 17. Ausgabe seiner "Bootleg Series", sind nicht wie üblich nur unveröffentlichte Aufnahmen der Sessions zu hören, sondern auch die Originale im neuen Klanggewand. Für Starproduzent Daniel Lanois dürfte das eine seltene Demütigung sein. Und für die Hörer?
Der Sound ist natürlicher, das massive Echo von Dylans Stimme verschwunden, die Instrumente sind räumlich verteilt und, anders als bei Lanois, ausgewogen gewichtet. Viele Spuren hört man überhaupt zum ersten Mal. Das hat seinen Reiz, und der Eröffnungssong "Love Sick" klingt auf andere Weise grandios und dunkel. Aber der Sound ist eben viel konventioneller - genau das wollte Lanois vermeiden. "Wenn man eine blues-basierte Platte macht, will man nicht wie eine Bluesband klingen", sagte er der AZ. "Man will das Mysterium, die Dunkelheit des Blues - aber damit etwas Originelles zu erreichen, ist nicht leicht."
Die Neuedition klingt zwar auch sehr gut, aber viel weniger mysteriös, weniger dunkel, weniger originell. "Standing In The Doorway" und "Tryin' To Get To Heaven" sind etwas langweiliger, "Not Dark Yet" oder "Can't Wait" entwickeln nicht den gleichen Sog. Kurzum: Daniel Lanois' Version ist besser. Dennoch ist "Fragments" hörenswert, und angesichts der vielen unveröffentlichten Aufnahmen und verschiedenen frühen Versionen ist es eine der lohnendsten Ausgaben der "Bootleg Series". Da kann man zuhören, wie die Songs im Studio wachsen: wie "Tryin' To Get To Heaven" durch eine Akkord-Änderung vom mittelmäßigen zum großartigen Song wird; wie "Not Dark Yet" erst im verlangsamten Tempo aufblüht; wie der "Dirt Road Blues" auch in anderem Gewand Staub aufwirbelt. Von "Mississippi" gibt es sogar fünf unterschiedliche Arrangements, allesamt wundervoll - aber Dylan und Lanois konnten sich auf keines einigen, der Song fiel damals unter den Tisch.
In der 2CD-Version gibt es eine CD mit diesen Alternativ-Aufnahmen, auf dem Boxset gleich drei und zudem eine weitere mit Live-Aufnahmen aus den Jahren 1998 bis 2001: mit fantastischer Band, aber - mit einer Ausnahme - in schwacher Tonqualität. Dylan war damals auf einem Höhepunkt als Live-Performer, ließ seine Auftritte aber rätselhafterweise eher dokumentieren als professionell aufzeichnen.
Darüber erfährt man freilich nichts im Booklet, ohnehin steht Dylan nicht mal anlässlich seiner eigenen Veröffentlichungen für Interviews zur Verfügung. Die Autoren der Liner Notes mussten sich aus alten Zitaten bedienen. Klar wird immerhin eines: Dylan hat sich die Entscheidung, "Time Out Of Mind" neu zu mischen, "nicht leicht gemacht", wie es da heißt. Ihm ist offenbar nicht ganz wohl mit Blick auf den Produzenten, der ihm half, wieder zum Gott zu werden. Und bei der Danksagung werden Daniel Lanois dann auch Worte zugedacht, denen man sich nur zu gern anschließen möchte: "tiefster Respekt und Bewunderung".
Bob Dylan: "Fragments - Time Out Of Mind Sessions (1996-97). The Bootleg Series Vol. 17" (2CD, 4LPs, 5 CD-Boxset und digital, bei Columbia Records/Legacy Recordings/Sony Music)