AZ-Filmkritik

"Shoplifters": Gaunereien, Glück und Geheimnisse


Der Familienvater (Lily Franky) und seine Frau (hinter ihm rechts: Sakura Ando) haben die kleine Yuri (Miyu Sasaki, hinten links) in ihre Patchwork-Familie aufgenommen, wo letztlich die Großmutter (Kilin Kiki, rechts) das Sagen hat.

Der Familienvater (Lily Franky) und seine Frau (hinter ihm rechts: Sakura Ando) haben die kleine Yuri (Miyu Sasaki, hinten links) in ihre Patchwork-Familie aufgenommen, wo letztlich die Großmutter (Kilin Kiki, rechts) das Sagen hat.

Von Selim Aydin

Der Gewinnerfilm der Goldenen Palme in Cannes: "Shoplifters" von Kore-Eda Hirokazus erzählt von einer Familie, die vielleicht gar keine ist. Oder gerade deshalb?

Egal ob religiös, Agnostiker oder Atheist: Im Kern bliebt Weihnachten eines: ein Familienfest. Und so passt "Shoplifters" eben doch wunderbar in diese Zeit, auch wenn er im warmen Sommer endet und in Japan spielt. Aber Regisseur Kore-Eda Hirokazu zeigt uns eine muntere Truppe aus einer Kernfamilie plus Großmutter und Tante. Und am Ende dieser klar, spannend und sehr menschlich bewegend erzählten Geschichte steht die Frage: Was macht Familie und Geborgenheit eigentlich aus?

Am Anfang sehen wir, wie der Vater mit seinem 12-jährigen Sohn als lässig trickreiches Duo in einem kleineren Supermarkt das Abendessen und Sonstiges für den Alltag zusammenklaut. Auf dem fröhlichen Rückweg vom routinierten Beutezug werden sie auf ein Mädchen aufmerksam, dass allein und frierend auf einem Balkon steht - und sie handeln selbstverständlich und spontan: Das von ihren Eltern im Stich gelassene Mädchen wird nicht nur mit-, sondern vor allem aufgenommen.

Klauen, aber nicht zu viel

So ist nach wenigen Minuten eine Welt beschrieben, die vielen von uns erst einmal fremd ist: Eine Ladendiebstahlfamilie mit hohem Diebesethos - nie die Existenz eines Händlers gefährden - lebt prekär, aber liebevoll miteinander, hat Spaß am improvisierten Leben und hält sich - wenn nötig - mit Gelegenheitsjobs über Wasser.

Und so könnte "Shoplifters" ein neorealistischer, aber fröhlicher Film sein - und ist es auch! Auch wenn sich langsam, bei aller gegenseitigen Zuneigung, immer mehr Zweifelhaftigkeiten dieser "Patchwork"-Gemeinschaft enthüllen und sich herausstellt, dass diese familiäre Gemeinschaft gar keine echte verwandtschaftliche ist, sondern eine totale Patchwork-Situation.

Ist eine Familie ohne Verwandschaft möglich?

So tauchen immer mehr interessante Facetten auf: "Wann sagst du Papa zu mir?", fragt der "Vater" seinen Sohn und stellt damit die Frage, wann sich jemand für ein Kind wie ein Vater anfühlt. Oder es stellt sich die Frage, ob man als diebischer Taugenichts überhaupt ein Vorbild sein kann. Und die Kinder gehen auch nicht in die Schule!

Diese witzige, auch brisante Konstruktion wird dann doch erschüttert, als der "Sohn" kein Dieb mehr sein und sich zum ersten Mal emanzipieren will. Und treibt nicht auch die warmherzige, alles zusammenhaltende Großmutter ein falsches Spiel? Am Ende ist alles anders: anders als wir als Zuschauer, aber auch als die Figuren selbst gedacht haben. Das macht "Shoplifters" so gelungen und ungemein lebendig, weil wir ständig unsere eigene Haltung neu bestimmen müssen.

Auf die große Frage nach dem, was eine Gemeinschaft braucht, um zu funktionieren, gibt Kore-Eda Hirokazu keine einfachen Antworten: Wahrheit? Ja, aber wieviel? Liebe? Ja, aber zählt sie auch, wenn sie egoistische Aspekte hat? Ehrlichkeit? Ja, aber vielleicht sind ein paar Gaunereien auch ganz legitim? Und wieviel Freiheit muss man den anderen lassen, ohne dass die Gruppe zerfällt?

Kino: City, Leopold, Studio Isabella , Theatiner Film (OmU), Buch & Regie: Kore-Eda Hirokazu (Japan, 119 Min.)