Kultur
Retro und politisch inkorrekt
20. Januar 2023, 17:15 Uhr aktualisiert am 22. Januar 2023, 15:46 Uhr
Es gibt Dinge, denen man getrost ein wenig hinterher weinen kann. Und solche, bei denen es gut ist, dass sie der Vergangenheit angehören. Zum Beispiel: die sogenannte "Freak Show". Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts präsentierten Schausteller auf Jahrmärkten das "Abnorme", Menschen mit Fehlbildungen. Sensationslüsterne konnten sich gruseln und staunen ob der menschlichen Kuriositäten. Die Bezeichnung "Menschenzoo" kommt nicht von ungefähr, wurden die menschlichen Attraktionen doch unter unwürdigen Bedingungen vermarktet. Nicht selten gab es auch "Völkerschauen", bei denen Menschen aus fernen Ländern in Käfigen präsentiert wurden.
Man staunt also nicht schlecht, wenn man den Titel der aktuellen Show im GOP-Theater liest: "Freaks". Und noch mehr, dass man sich hier ganz explizit und ungeniert auf eben diese Vorbilder aus dem 19. Jahrhundert bezieht, als wären alle Debatten seitdem komplett unbemerkt an Regisseur Detlef Winterberg und seinem Team vorbeigezogen. "Freak-Shows gibt es schon lange", sagte er vor der Premiere. Und: "Das ist es, was wir nachstellen wollen."
Und auch wenn GOP-Direktor Peter Weil betont, dass es darum gehe, den eigenen inneren Freak, den wir alle in uns tragen, anzunehmen und zu umarmen, startet dieser Abend dennoch aus einer merkwürdigen Schieflage. Aus dem riesigen Maul des übergroßen Clowns, der auf der Rückseite der Bühne prangt, schlüpfen zunächst "die Schwestern", Camille Tremblay und Vanessa Collini. Ihre zerrissenen Krankenhaushemdchen zeigen, wo sie herkommen. Sie sind ausgebrochen aus der "Irrenanstalt", direkt auf diesen Jahrmarkt der Uneitelkeiten, wo sie nun ihre akrobatisch beeindruckende Duo-Akrobatik zeigen.
Wie so oft stören merkwürdige Assoziationen, die optisch geweckt werden, den Blick auf das reine Können. Denn Winterberg ist durchaus konsequent in seinem Jahrmarkts-Thema: Die Schwertschluckerin Fibi Eyewalker, die unglaublich gruselige Dinge veranstaltet, sich Kleiderbügel und riesige Scheren in den Hals steckt, wird mit gewundenen Widderhörnern selbst zur animalischen Kuriosität. Oder Gabriel Drouin darf nicht einfach seine wunderbare Reifen-Nummer aufführen, sondern muss sich im roten Kleid in die "bärtige Lady" verwandeln, um dem Thema gerecht zu werden. Natürlich gibt es auch "den stärksten Mann der Welt" (Thomas Staath), der mit Autoreifen jongliert und mühelos die Pole-Stange hochläuft, als wäre es ein Stadtbummel, und die "Spinnenfrau", deren Tanz Estrella Urban zum Höhepunkt dieses Abends macht.
Zwischendurch springt noch der Comedian Davide Nicolosi alias Skizzo über die Bühne, macht viel Komisches (verschwindet zum Beispiel zur Gänze in einem übergroßen Luftballon) - und auch allerlei nicht ganz so Komisches. Zusammengehalten wird die Truppe vom beeindruckenden Musiker Elyas Khan, der zum "Freakmaster" befördert wurde.
Das GOP hat wieder mal eine beeindruckende Auswahl an großartigen Artistik-Acts auf seiner Bühne versammelt. Warum man sich für diesen fragwürdigen Rahmen entschieden hat, bleibt ein Rätsel. Die Inszenierung fällt einfach zurück in die Vergangenheit. Es gibt keine verbindende Geschichte. Keinen Kommentar zur Historie. Keine Einordnung. Hier wird etwas herauf beschworen, das die Gesellschaft aus gutem Grund überwunden und hinter sich gelassen hat.
Bis 5. März, GOP, am Maxmonument, Maximilianstraße 47, wochentags immer 20 Uhr, Samstag, 17.30 und 21 Uhr, Sonntag, 14.30 und 18.30 Uhr, Karten bei Münchentickt und www.variete.de/muenchen