Kultur

Nichts für Puristen

Vladimir Jurowski über "Krieg und Frieden" im Nationaltheater


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Von Robert Braunmüller

Der Komponist begann seine Oper nach Tolstois monumentalem Roman "Krieg und Frieden" im Zweiten Weltkrieg. 1946 wurde der erste Teil in Leningrad uraufgeführt. Unter dem Druck der stalinistischen Kulturpolitik arbeitete Sergej Prokofjew die Oper mehrfach um, ohne sie jemals zu vollenden. Dmitri Tcherniakov inszeniert, Vladimir Jurowski dirigiert die Münchner Erstaufführung dieses nicht unproblematischen Werks. Beim Interview trug der Generalmusikdirektor ein T-Shirt mit dem ukrainischen Dreizack.

AZ: Herr Jurowski, Opernpremieren haben einen langen Vorlauf. Die Entscheidung für diese Premiere fiel daher lange vor dem russischen Überfall auf die Ukraine. Was reizt Sie an dieser Oper?

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Vladimir Jurowski wurde 1972 in Moskau geboren. 1990 kam er nach Deutschland, wo er sein Studium in Dresden und Berlin fortsetzte. Er war Kapellmeister an der Komischen Oper Berlin und Chef des London Philharmonic Orchestra. Seit 2017 leitet er das Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin, 2021 wurde er Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper.

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Prokofjews "Krieg und Frieden" im Nationaltheater.

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Prokofjews "Krieg und Frieden" im Nationaltheater.

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Das Bühnenbild zitiert den Säulensaal im Moskauer Haus der Gewerkschaften. Hier fanden Trauerfeiern für sowjetische Staats- und Parteichefs statt.

VLADIMIR JUROWSKI: Ich komme aus einer Musikerfamilie, trotzdem hat mich niemand gezwungen, Musiker zu werden. Meine Mutter erzählt, die ersten beiden Worte, die ich schreiben konnte, seien "Lenin" und "Prokofjew" gewesen - beides allerdings mit Fehlern.

Was hat Sie so früh an diesem Komponisten interessiert?

Er ist der ideale Komponist für Kinder und Jugendliche - nicht nur wegen "Peter und der Wolf". Für Teenager eignet sich nach meiner Erfahrung besonders gut die Ballettmusik "Romeo und Julia", und zwar sowohl zum Zuhören als auch für die Aufführung durch ein Jugendorchester, weil sie sehr starke Emotionen transportiert.

Als Opernkomponist war Prokofjew ein Pechvogel: Bis auf "Die Liebe zu den drei Orangen" kamen alle Opern erst mit Verspätung auf die Bühne - manche erst posthum.

Sie waren nie so populär wie seine sinfonischen Werke. Meine persönliche Geschichte mit der Bayerischen Staatsoper begann allerdings vor acht Jahren mit dem "Feurigen Engel". Ich habe auch noch andere Werke Prokofjews in meinem Portfolio, auch Schwieriges wie "Semyon Kotko".

Ein Revolutionsdrama, das in der Ukraine spielt.

Prokofjew stammt aus dem Donbass. Er wurde im Dorf Sonziwka geboren, nicht weit von Donezk und Bachmut. Natürlich ist die Handlung dieser Oper von der sowjetischen Ideologie geprägt, aber sie erzählt von lebendigen Menschen - genau wie "Krieg und Frieden".

Trotzdem bleibt auch bei dieser Oper ein Beigeschmack von Sowjetpropaganda haften.

Dass "Krieg und Frieden" im Westen selten und nur mit Kürzungen gespielt wird, hat mit dem Textbuch von Prokofjews zweiter Frau Mira Mendelson zu tun. In sie verliebte er sich bald nach seiner Rückkehr nach Russland Mitte der dreißiger Jahre unsterblich. Mira Mendelson war viel jünger und sowjetisch geprägt. Daher erzählt "Krieg und Frieden" die Handlung nicht aus der Perspektive von 1812 und auch nicht aus der Perspektive Tolstois, sondern aus jener der Sowjetideologie von 1941. Konkret: Es geht darum, Napoleons Russlandfeldzug in Beziehung zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion zu setzen.

Wie verhalten sich Roman und Oper zueinander?

Tolstois Roman ist ein Gesellschaftspanorama, das den Idealismus der napoleonischen Ära dem Zynismus der unter dem reaktionären Druck zusammengebrochenen Gegenwart des Autors gegenüberstellt. Prokofjew stellt - wie die sowjetische Propaganda - Gemeinsamkeiten zwischen dem "Vaterländischen Krieg" von 1812 und dem "Großen Vaterländischen Krieg" von 1841 heraus. Stalin setzte in dieser Krise auf patriotisch-nationalistische Slogans. Prokofjew wollte in dieser Situation etwas schreiben, was dem Volk nützlich und den Machthabern genehm war.

Tendenziös kommt mir vor allem die Figur des russische Oberbefehlshaber Kutusow vor, der in der letzten Fassung der Oper aufgewertet wird.

Der zum genialen Strategen stilisierte Feldherr der Oper hat nichts mit dem historischen Kutusow zu tun, der eher als taktischer Spieler und Zauderer gilt. Tolstoi wusste das, aber er glaubte eher seinen Bauern, die den General für den Retter der Nation hielten.

Bei Prokofjew singt er traditionelle Arien im Stil von Glinka.

Die erste Arie in der Szene der Schlacht von Borodino war von Anfang an da. Die zweite Kutusow-Szene mit dem Kriegsrat in Fili kam später hinzu. Allerdings gibt es einen Brief, in dem Prokofjew erlaubt, diese Szene wegzulassen - was wir tun. Ihm waren die Szenen mit Natascha, Andrej und Pierre wichtiger.

Kann man die zweite Arie mit dem Geläut der Moskauer Glocken streichen? Sie liefert immerhin das Thema des Schlusschors.

Nur in der zweiten Fassung. Der ursprüngliche Schlusschor beruht auf dem Thema der ersten Kutusow-Arie. Dieses Finale wurde seit 1946 nicht mehr gespielt. Hier wirkt eine große Militär-Banda mit 24 Musikern auf der Bühne mit.

Ein patriotisches Chorfinale ist kaum im Sinn Tolstois: Der Roman endet mit einem geschichtsphilosophischen Essay.

Daher haben wir uns entschieden, nur die Banda spielen zu lassen und Gesang wegzulassen. Das ist sicher nichts für Puristen, aber schien Tcherniakov und mir musikdramatisch sinnvoll.

Es heißt oft, Prokofjews Musik fehle der doppelte Boden Schostakowitschs.

Bei Schostakowitsch merkt man, wenn er zu etwas gezwungen wurde: Dann ist die Musik schlecht, wie etwa in der 12. Symphonie. Prokofjew war dafür zu professionell. Ich halte den Vorwurf des Zynismus für nicht ganz unberechtigt - wenn er dem sowjetischen Patriotismus freien Lauf lässt, etwa in der Filmmusik zu Sergej Eisensteins "Alexander Newski" oder dem "Trinkspruch auf Stalins 60. Geburtstag".

Wie gehen Sie mit der fatalen Aktualität um, die diese Oper seit einem Jahr gewonnen hat?

Das war für uns zuerst ein Schlag ins Gesicht. Als wir uns damit abgefunden haben, die Oper trotzdem herauszubringen, kamen wir beide zum gleichen Schluss: Diese tragische Situation ermöglicht uns, das Widersprüchliche von Prokofjews Oper zu seinem Besten zu wenden. "Krieg und Frieden" hat Ecken und Kanten. Nun aber erweist sich das Gebrochene, der ständige Wechsel der Perspektive zwischen 1812, 1941 und der Gegenwart als Gewinn. Wenn im Libretto der Text Tolstois im "Epigraph" am Beginn des zweiten Teils in Passagen übergeht, die aus der "Prawda" stammen könnten, wird von der heutigen Realität in Russland bestätigt.

Der Bühnenraum könnte dem einem oder anderen Zuschauer bekannt vorkommen.

Es ist der Säulensaal im Moskauer Haus der Gewerkschaften, erbaut um 1775 für die Moskauer Adelsversammlung. Es ist eines der wenigen Gebäude, das den Großen Brand von 1812 überstanden hat. Hier wurden Lenin, Stalin, Breschnew und Gorbatschow aufgebahrt, zwischen 1936 und 1938 war es der Ort der Schauprozesse. Hier fanden auch Konzerte statt: Ich habe dort unter der Leitung meines Vaters zum ersten Mal Prokofjews Symphonie Nr. 5 gehört. Die Akustik war berühmt, weil auf dem Dachboden Scherben aus venezianischem Glas lagen. Sie gaben bei hohen Frequenzen dem Violinklang einen besonderen Schmelz - bis eine Putzfrau dort oben aufgeräumt hat.

Premiere am Sonntag, 5. März, 17 Uhr. Restkarten. Als Livestream auf Staatsoper.tv, BR-Klassik und arte.tv/opera