Kultur
Kunst gegen Ratlosigkeit
16. April 2023, 16:26 Uhr
Kevin, der achtjährige Held der US-Filmkomödie "Allein zu Haus", kommt einem nicht spontan in den Sinn, wenn es um den Krieg in der Ukraine geht. Doch es gibt einen Bezug zur Filmmusik des Familienactionstreifens zur Weihnachtszeit. Dort ist das vor allem im englischsprachigen Raum beliebte Weihnachtslied "Carols Of The Bells" zu hören. Die Melodie beruht auf einem ukrainischen Volkslied, das der Komponist Mykola Leontowytsch bearbeitete. Er wurde 1921 von einem sowjetischen Agenten erschossen und ist eine der drei Figuren aus der Geschichte der Ukraine, von denen Natalka Vorozhbyt in "Green Corridors" erzählt.
Eine weitere ist die Lyrikerin Olena Teliha, die 1942 in Babyn Jar von den deutschen Besatzern ermordet wurde. Sie gehörte zu den Nationalisten ihres Landes wie auch der weitaus radikalere Stepan Bandera, der Anführer einer rechtsextremen Organisation, die im Zweiten Weltkrieg mit den Nationalsozialisten kollaborierte. Nach dem Krieg lebte er in München, wo er vom KGB 1959 getötet wurde. Alle drei werden gespielt von einer aus Kiew vor dem russischen Überfall geflohenen Schauspielerin (Svetlana Belesova), denn die Biografien sollen im Westen verfilmt werden.
Die Dreharbeiten weiten den Raum zeitlich tief ins vergangenen Jahrhundert aus, ziehen eine zweite dramatische Ebene ein und die Debatte um die Rolle, die der dem deutschen Faschismus nahe stehende Bandera spielte, gehört zu den oft raffinierten und unerwarteten Bezügen und Querverweisen, die Vorozhbyt herstellt. Die Gegenwart lasse sich schließlich nur aus der Vegangenheit verstehen, erklärt der Filmregisseur (André Benndorf). Diese grundsätzlich kluge Erkenntnis stellt die Souffleuse (Jutta Masurath) in Frage: "Aber mit Vergangenheit verstehe ich die Gegenwart schon gar nicht mehr".
Knapper und treffender lässt sich die allgemeine Ratlosigkeit angesichts der Vorgänge in der Ukraine kaum beschreiben. Der erzählerische Hauptstrang spielt in dieser Gegenwart und handelt von vier Frauen, die ihre Heimat über "green corridors" verließen: Die 45-jährige Schauspielerin, eine 25-jährige Nageldesignerin aus Butscha (Tanya Kargaeva), eine 35-jährige Hausfrau aus Charkiw (Maryna Klimova) sowie eine 65-jährige Rentnerin und "Katzenfreundin" aus Tschernihiw (Julia Slepneva).
Die Schauspielerin hat eine Eigenschaft, die man auch Katzen nachsagt: Sie hat mehrere Leben. In einer Art magischem Realismus wird sie von den anderen mehrfach erschlagen. Sie wird als Darstellerin einer russischen Fernsehserie erkannt und erregt Wut, wenn sie dazu auffordert, an Demonstrationen teilzunehmen oder die für die Geflüchteten kostenlosen Kulturinstitute zu besuchen - die Kunst im Allgemeinen und was sie mit dem Leben der Menschen zu tun hat, ist auch eine der Fragen, die Voroshbyt diskutiert.
Jan-Christoph Gockel schafft in seiner Inszenierung das Unglaubliche, all das und viel mehr auf die Bühne zu stellen, ohne unter der Komplexität einzuknicken. Das Wissen um die Begrenztheit der Kunst, wenn es um Krieg, Folter und Flucht geht, hat er zudem eingepreist. Furchtlos geht er mit dem oft grotesken Humor der Dialoge und Situationen um. Da ist etwa eine Sozialarbeiterin (Johanna Eiworth) so hysterienah empathisch, dass sie von einer Antragstellerin getröstet werden muss.
Doch wenn die junge Frau aus Butscha ganz ruhig von den Vergewaltigungen berichtet, die sie tagelang erlitten, wird es still im Saal. Und dann gibt es diesen wunderbaren Moment, in dem sie die Mauer, die die Spiefläche sehr schmal machte, mit dem Finger antippt. Verblüffend federleicht fällt sie um und der Blick wird frei auf die gesamte Tiefe der Therese-Giehse-Halle. Ein Theater der starken Setzungen, an denen auch die ukrainische Zeichnerin Sofiia Melmyk Anteil hat. Sie sitzt mit einem Tablet daneben, von dem ihre live hergestellten Bilder auf die Wand projiziert werden, bis die Mauer fällt.
Münchner Kammerspiele, Therese-Giehse-Halle, 21. April, 25., 26. April, 13., 14., 23., 25. Mai