Bayerisches Staatsschauspiel
Julia Hölscher über "Der starke Stamm" von Marieluise Fleißer
21. Januar 2020, 17:55 Uhr aktualisiert am 22. Januar 2020, 10:43 Uhr
Julia Hölscher inszeniert "Der starke Stamm" von Marieluise Fleißer am Residenztheater.
Einen gehörigen Schuss Basel hat das Bayerische Staatsschauspiel unter seinem neuen Intendanten Andreas Beck schon deutlich intus. Was kein Wunder ist: Schließlich hat Beck zuletzt das Theater Basel geleitet und brachte einige Teammitglieder sowie Inszenierungen mit nach München. Gleichzeitig gibt es spürbare Bemühungen, mit der neuen Wirkungsstätte und insgesamt den Bayern auf Tuchfühlung zu gehen: Eine "abenteuerliche" Lola-Montez-Oper, verfasst und inszeniert von Ringsgwandl, steht unter anderem im April auf dem Programm. Und jetzt inszeniert Hausregisseurin Julia Hölscher "Der starke Stamm" der Ingolstädter Autorin Marieluise Fleißer.
AZ: Frau Hölscher, Ihre Basler Inszenierung von Kleists "Amphitryon" hatte im November seine Münchner Premiere. Haben die Leute hier anders reagiert als die in Basel?
JULIA HÖLSCHER: Ja, ich finde schon. Offener.
Offener, weil sie gelacht haben?
Ja, manche haben geschmunzelt, andere gekichert, einer hat vernehmlich eingeatmet, andere haben laut gelacht. Das finde ich immer toll, wenn man das Gefühl hat, dass die Leute bei sich sind im Theater. Wenn das Gelächter und die Reaktionen insgesamt nicht für die anderen sind, sondern für einen selbst.
Haben Sie lange an dem Ende der Inszenierung, dem berühmten "Ach!", gefeilt?
Ja, natürlich. Aber am Ende ist es doch so einfach: Alkmene ist halt schwanger.
Die Götter waren bereits arg menschlich bei Kleist; jetzt tauchen Sie gar in die Abgründe des bayerischen Dorflebens ab. Wie kommen Sie denn auf dieses selten gespielte Stück?
Ach, ich habe tatsächlich den "starken Stamm" schon mal inszeniert; 2011 war das, in Braunschweig. Ich wollte das Stück unbedingt noch mal inszenieren, weil ich das Gefühl hatte, dass das damals nicht so richtig gepasst hat: Dieser trockene Humor, diese stoische bayerische Art, auch das Derbe - das hat im Norden einfach nicht so richtig funktioniert. Jetzt kann ich das Stück auf einen Boden stellen, wo es eher verstanden wird. Außerdem kam ich damals frisch von der Regiehochschule in Hamburg, da habe ich mehr aus dem Bauch heraus gearbeitet. Für dieses Stück sollte man schon ein paar Jahre auf dem Buckel haben. Jetzt traue ich mich auch, etwas derber und härter zu sein.
Marieluise Fleißer arbeitete an dem Stück noch während des Zweiten Weltkriegs. 1945 hat sie es veröffentlicht, die Uraufführung war 1950 in den Münchner Kammerspielen. Kann man dieses Stück gut siebzig Jahre später ohne große Aktualisierungen inszenieren?
Ich denke schon. Die Boshaftigkeit der Figuren hat ja kein Verfallsdatum. Das finde ich an diesem Text auch so großartig: Wie bitterböse er ist, wie böse die Menschen sind, aber auch auf charmante Weise. Alle kämpfen um ihre Existenz und haben nur sich im Blick, nehmen dabei gerne im Kauf, die anderen zu verletzen. So was kennt man doch vielleicht auch von eigenen Familientreffen. Wo man sich denkt: Eigentlich ist das Hauptthema gegenseitige Wut oder gar Hass, aber keiner traut sich, das mal offen auszusprechen.
Weihnachten haben wir ja gerade hinter uns.
Ja, genau! Im Stück ist einfach wahnsinnig gut beschrieben, wie Menschen viel voneinander wissen können und gleichzeitig überhaupt nicht miteinander auskommen. Die gönnen sich gegenseitig gar nichts. Man ist erst glücklich, wenn es den anderen schlechter geht als einem selbst.
Diese Boshaftigkeit drückt sich auf dem Land direkter aus als in der Stadt?
In der Stadt ist diese Boshaftigkeit vielleicht ein bisschen verwaschener. Wenn man da gewisse Leute nicht mag, kann man ziemlich leicht Distanz schaffen. Auf dem Land hingegen muss man sich auch mit Menschen abgeben, die einem möglicherweise gar nicht passen - weil es halt auch niemand anderen gibt. Manche Leute ziehen ja deshalb in die Stadt, weil sie sich dort unbeobachteter fühlen.
Sie wurden in Stuttgart geboren, also mittendrin in Schwabens schönster Metropole?
Nein, ich bin in der Nähe auf dem Land aufgewachsen. Ich kenne also dieses Leben und solche Menschen, von denen das Stück handelt, das färbt auf einen ab. Schon damals bin ich gerne nach München gefahren, und heute möchte ich nicht mehr zurück aufs Land.
Fleißer wurde in Ingolstadt geboren, lebte vorübergehend in München, kehrte aber letztlich nach Ingolstadt zurück und heiratete einen Tabakwarenhändler, in dessen Laden sie mitarbeitete.
Ja, trotz eines Stadtverweises ging sie zurück, weil sie sich mit ihrer Heimat versöhnen wollte.
Im Stück versuchen nun sowohl Schwägerin Balbina als auch die Magd Annerl, mit dem Witwer Bitterwolf anzubandeln, um sich finanziell abzusichern. Ein schönes Frauenbild ist das nicht gerade.
Aber die Männer sind doch genauso. Allen geht es nur ums Geld. Alle Figuren sind Darwinisten, die nur am Kapital interessiert sind. Die Frauen müssen nun mal andere Wege einschlagen, um sich finanziell abzusichern: nämlich einen reichen Mann heiraten. So ist es zumindest bei der Magd Anne. Die Balbina ist eine ziemlich kluge Geschäftemacherin. Wenn man über "männliche" und "weibliche" Attribute sprechen will, dann ist sie sicherlich sehr männlich darin, wie sie auch über Leichen geht. Dabei setzt sie wiederum die "Waffen der Frauen" ein.
Die Balbina ist die heimliche Hauptfigur des Stücks.
Ja, wobei der Bitterwolf häufiger auf der Bühne ist. Der macht von allen die größten Fehler, aber bleibt stoisch, bewegt sich nicht. Die Balbina jedoch geht immer weiter, die kämpft um ihr Leben. Wie sie dabei vorgeht, ist zwar sehr böse, aber wir lieben ja auch die Bösen, weil wir in ihnen unsere eigenen Abgründe wiedererkennen. Vielleicht denkt man nach dem Abend darüber nach, wie böse man eigentlich selbst ist, oder auch, dass das einem oft selbst gar nicht auffällt.
Bei allen Identifikationsmöglichkeiten ist die Atmosphäre auf der Bühne jedoch ländlich, oder?
Wir haben eine Bretterbühne und es gibt ein Draußen, das vor allem vom Wetter bestimmt ist. Das Ländliche entsteht aber vor allem über die Derbheit, mit der die miteinander umgehen. Dabei soll kein Schwank entstehen, sondern das hat eher eine Archaik, die in der Sprache und in den Körpern liegt.
Dabei lässt Marieluise Fleißer ihre Figuren ein markantes Kunstbaierisch sprechen, das für einen Zugroasten gar nicht so leicht zu verstehen, geschweige denn zu sprechen ist.
Ja, wobei es zwei Fassungen gibt: Fleißer hat den Text ursprünglich in seinem sehr starken Baierisch verfasst. Sie wurde aber später gebeten, eine Fassung auf Hochdeutsch zu schreiben, weil selbst Theater in München oder Nürnberg meinten, sie könnten das Stück nicht spielen. Wir haben mit der zweiten Fassung gearbeitet, gingen in den Proben aber dennoch durch beide Fassungen, um jeden Satz zu verstehen und daraus ein Destillat zu gewinnen.
Nehmen Sie sich irgendwelche Freiheiten mit dem Text?
Nein. Der Text ist sehr genau gearbeitet und genauso genau gehen wir mit ihm um. Der muss scharf sein, der Text ist die Waffe. Die Figuren metzeln sich gegenseitig mit Worten. Im Grunde spielen wir eine griechische Familientragödie, die im Idealfall so böse ist, dass man darüber lacht.
In einer Szene wird ziemlich fies ein Gockel geschlachtet.
Ja, wir haben einen ganz tollen Gockel von einer Tiertrainerin, die einen kontrolliert biologischen Hof besitzt und so eine Art Auffanglager für Tiere geschaffen hat, von denen einige fast geschlachtet worden wären und jetzt dort eine Heimat haben. Ich glaube, sie beliefert mittlerweile fast jeden Film in München, in dem Tiere mitspielen. Der Gockel heißt Arthur und hat die Ruhe weg.
Er überlebt hoffentlich.
Ja, natürlich… Der ist trainiert und kennt Scheinwerfer. Er muss zwar nicht auf Knopfdruck krähen, aber manchmal macht er so ein Geräusch, das wirklich sehr lustig ist.
Sie selbst haben mal Gesang studiert. Wie kam der Dreh zur Regie?
Zunächst wollte ich Regisseurin werden und habe bei einem Film in München assistiert, fand das Drumherum aber wahnsinnig anstrengend und unbefriedigend - allein dieses monatelange Warten darauf, ob ein Antrag angenommen wird! Also verfolgte ich zunächst meinen anderen Wunsch, Opernsängerin zu werden. Klaus Zehelein leitete damals die Stuttgarter Staatsoper, und ich fand die Inszenierungen dort großartig. Allein dieses Opern-Ensemble - so etwas gibt es ja heute leider fast gar nicht mehr. Als ich dann in Hamburg mein Gesangsstudium begann, war da um mich herum fast nur dieser glockenhelle Gesang, während ich mit meiner Stimmlage eher auf Buffo-Rollen abonniert gewesen wäre. Zu der Zeit habe ich viel am Schauspielhaus gesehen, als Tom Stromberg dort Intendant war. Auch wenn mir nicht alles gefiel, fand ich vieles ganz toll. Da habe ich gemerkt, dass doch Regie für mich der Weg ist.
Premiere am Do., 23. Januar um 19.30 Uhr im Residenztheater