Kultur

Gefühlskaleidoskop

Zum Auftakt der Ballettwoche überzeugt der schöne wie tiefe zweiteilige Ballettabend "Schmetterling" von Sol Léon und Paul Lightfoot


"Der Schmetterling" - hier der Teil des Abends mit dem Titel "Silent Screen": Séverine Ferrolier und Vladislav Kozlov.

"Der Schmetterling" - hier der Teil des Abends mit dem Titel "Silent Screen": Séverine Ferrolier und Vladislav Kozlov.

Von Vesna Mlakar

Dieser Zweiteiler hat enorme, ergreifende Wucht. Ganz wie der Titel "Schmetterling" es verspricht, kommt alles Erdenschwere, das die Protagonisten umtreibt, in seiner Vehemenz und Intensität letztlich herzgewinnend über die Rampe - bei einer Riege von 20 beteiligten Tänzerinnen und Tänzern, die hier - mimisch wie körperlich fantastisch - eine gigantische Palette an Gefühlskräften mit vulkanischer Power walten und wirken lassen, sogar wenn sie im Zarten etwas andeuten.

Das Choreografen-Duo Sol Léon und Paul Lightfoot hat in beide seiner Stücke - "Silent Screen" aus dem Jahr 2005 und "Schmetterling", das 2010 vom Nederlands Dans Theater uraufgeführt wurde - so viel gepackt, dass man den neuen Premieren-Doppelabend des Bayerischen Staatsballetts nur reich beschenkt und eigenartig beglückt verlassen kann. Dies kommt fast einem Paradox gleich.

Denn beide Stücke, die allein schon visuell in ihrer Ausstattung bis auf wenige Ausnahmen in Schwarzweiß gehalten sind, thematisieren Tiefgründiges. Ohne einem stringenten roten Erzählfaden zu folgen, werden da in nahtlos aneinander gehäkelten dramatischen Miniaturen Veränderungen im Miteinander, Brüche sowie der Umgang mit Alter und Tod, mit dem Sich-Selbst-Verlieren und unaufhaltsamen Verfließen von Zeit in einer sehr herausfordernden Bewegungssprache verhandelt.

In München sind beide Werke erstmals in Kombination ergänzt um ein Zwischenspiel während der Pause. Man sollte also sitzenbleiben oder zumindest früher in den Zuschauerraum zurückkehren.

Lange tobt der Beifall nach diesem Wurf, den noch Münchens voriger Ballettchef Igor Zelensky - durchaus visionär für das Ensemble - eingefädelt hatte. Seinem Nachfolger Laurent Hilaire, der an diesem Abend neben Staatsopernintendant Serge Dorny selbst begeistert applaudiert, hat er damit einen Glücksgriff zur Repertoire-Erweiterung beschert.

Ein wahrhaft
traumgleicher
Beziehungstrip

Gleich zu Beginn in "Silent Screen" sieht man ein Paar. Neben ihnen ragt die Silhouette eines Dritten auf. Sie stehen vor einem großflächigen Leinwand-Paravent, über den filmisch Wellen an einen ins Nichts führenden Küstenweg branden. Als sich Eline Larrory (ein ausdrucksstark-natürlicher Kompanie-Neuzugang!) und Severin Brunhuber langsam dem Publikum zu und in den Raum hinein wenden, verschwindet die Filmfigur in der Ferne.

Die Tänzer starten auf kleinster Fläche mit einem traumgleichen Beziehungstrip durch. Gut möglich, dass ihnen in den später mit einer riesigen schwarzen Schleppe aus dem Graben auftauchenden Gestalten Alter Egos begegnen. Aus der Zeit gerissen, motorisch abstrakt und zugleich sehr assoziationsstark durchläuft das Paar zu Musik von Philip Glass (vom Band: "Glassworks" und "The Hours") unterschiedliche Phasen einer Partnerschaft. Vergleichbar einem vom Stummfilm inspirierten Gefühlskaleidoskop, das im Mittelteil von einem weiteren Mann (Andrea Marino), einem jugendlich verknotet-frischen Pas de deux in Weiß (Bianca Teixeira, Matteo Dilaghi) und einem schmissigen, roh ausgelassenen Männertrio (Osiel Guneo, Giovanni Tombacco, António Casalinho) flankiert wird. Auch das Mädchen im roten Mäntelchen aus dem Film (Margarita Fernandes) stößt hinzu - in ihrem taff-eckigen Auftreten so gar nicht zerbrechlich. Keinen dieser Charaktere möchte man missen.

Das trifft auch auf das Panoptikum kurioser Typen im titelgebenden zweiten Teil "Schmetterling" zu. Jeder für sich punktet als Bühnenerlebnis der besonderen Art, so beredt und von innen heraus impulsiv wie theatralisch aufgeladen spielen sie eine unglaubliche menschliche Farbigkeit aus. Eine echte Entdeckung aus dem Ensemble: Rafael Vedra, dessen Grimassen an einen schaurigen Maori-Dämon erinnern. Zudem sind einem die Interpreten, die zeitweise durch das Aufreißen ihrer Münder, wildes Zungeblecken oder urplötzliche Lautäußerungen elektrisieren, wegen des überbauten Orchestergrabens viel näher als sonst im Münchner Nationaltheater.


Die wiederholt fröhlich über die Bühne swingenden Ensemble-Ketten könnten ein Indiz dafür sein, dass das Werk kurz nach Pina Bauschs Tod entstanden ist. Im Kern geht es jedoch um eine alte Mutter, deren Lebensgeister verglimmen und deren Erinnerungen ineinander verschwimmen - musikalisch entfesselt durch Kompositionen von Max Richter und Love Songs der Indie-Rock-Band Magnetic Fields, deren Texte im Programmheft nachzulesen sind - mimisch zwischen Lachen und Weinen, Bewusstsein und Verwirrung atemberaubend dargeboten von der grandios bucklig-verbogenen Ersten Solistin Laurretta Summerscales. Der Abschied des Sohnes (überaus eindrücklich: Robin Strona) gerät zu einem Fest voller Intimitäten.

Liebe ist der Kitt, der dem Leben Kraft und Richtung gibt. Wie durch ein Pflaster werden die Schmerzen der Vergänglichkeit gelindert und menschliche Beziehungen über den Verlust hinaus wertvoll gemacht. Nach von Tollheiten gespickten zweimal 45 Minuten tänzerischer Rasanz führen Léon & Lightfoot am Ende berührend-empfindsam und sporadisch fast launig-humorvoll vor, dass es auch wunderschön sein kann, das Leben gehen zu lassen, während es andere gleichzeitig neu für sich (er)finden (müssen).

So ist diese Fülle und Tiefe an Lebensfragen nur ganz selten in der choreografischen Kunst zu erleben.

Nationaltheater, weitere Vorstellungen am 21., 28., 29. April 2023, jeweils 19.30 Uhr (mit einer ca. 20-minütigen Einführung
eine Stunde vor Vorstellungsbeginn), Karten unter Telefon 089-2185 1920 oder www. staatsoper.de