Kultur

Die Zeit steht plötzlich still

Musik von Nikolaus Brass und Hans Thomalla in der musica viva


Nikolaus Brass, Vimbayi Kaziboni und Tabea Zimmermann (v. r.) im Herkulessaal der Residenz.

Nikolaus Brass, Vimbayi Kaziboni und Tabea Zimmermann (v. r.) im Herkulessaal der Residenz.

Von Marco Frei

Dieser Abend war in jeder Hinsicht ein starkes Signal. Da ist Vimbayi Kaziboni: Der Dirigent aus Zimbabwe ist ein exzellenter Interpret zeitgenössischer Musik, maßgeblich geschult durch das Ensemble intercontemporain in Paris und das Frankfurter Ensemble Modern. Noch dazu kommt es nicht gerade häufig vor, dass ein "Artist in Residence" des BR-Symphonieorchesters auch im Rahmen der "musica viva" auftritt.

Bei Tabea Zimmermann ist genau das selbstverständlich. Die Bratschistin hat bereits zahllose Werke uraufgeführt. Die konsequente Pflege des Neuen gehört genauso zu ihrem Profil wie das Erschließen von weniger bekanntem Repertoire. Gleichzeitig spielt sie nicht einfach neue Werke, sondern füllt sie ganz konzis mit Eigenleben. Das offenbarte die Uraufführung von "In der Farbe von Erde" von Nikolaus Brass, benannt nach einem gleichnamigen Text des Schweizer Lyrikers Philippe Jaccottet.

Bereits 2021, während der Pandemie, hat der in Lindau lebende Brass diese "Musik für Viola, 44 Streicher und zwei Schlagzeuger" komponiert. Zu diesem Zeitpunkt stand noch gar nicht fest, dass Zimmermann das Bratschensolo übernehmen würde. Weil die Uraufführung wegen der Pandemie um ein Jahr verschoben werden musste und Zimmermann in dieser Saison "Artist in Residence" beim BR ist, kam diese Konstellation heraus: eine glückliche Fügung.

Aus dem eröffnenden Solo der Bratsche erwachsen einzelne Stimmen. Über kleinere Kammer-Ensembles schält sich allmählich der Orchesterapparat heraus, um wieder in die Reduktion zurückzukehren. Dieser Prozess geriert sich wie ein fließendes Kontinuum, samt mikrotonalen Abweichungen und gezielten Skordaturen um Vierteltöne. Mit ihrem vollen, runden Bratschenklang machte Zimmermann hörbar, wie sehr der Solopart die Quelle des Geschehens ist: wie in den Konzertwerken von György Ligeti.

Das Orchester wurde zu einem erweiterten Resonanzkörper der Bratsche. In den Abschnitten, wo die Solo-Viola alleine zu spielen hat, vollzogen sich veritable Hörwunder. "Frei, quasi una cadenza", heißt es in der Partitur. Im atmosphärisch dichten Spiel von Zimmermann schien die Zeit stillzustehen: reinste Klangpoesie, weit in den Raum atmend. Mit diesem Werk ist Brass, ein großer Komponist von Kammermusik, ein Durchbruch im Orchester-Genre geglückt.

Dagegen wirkte die Uraufführung von "...the Brent geese fly in long low wavering lines…" von Hans Thomalla wie ein simpler Abklatsch von Steve Reichs überreichem Minimalismus. Dafür aber bildete sich mit Brass sowie dem 1959 entstandenen "Quattro pezzi su una nota sola" von Giacinto Scelsi ein unerwartet stringentes Narrativ heraus. Auch im neuen Werk von Brass gibt es Momente, in denen einzelne Töne in Ausdruck und Phrasierung eruiert werden. Auch dieser dramaturgisch rote Faden hat aus dem Abend ein Ereignis gemacht.