Kultur

Der Meister der Stille

Das Rijksmuseum in Amsterdam zeigt bis zum 4. Juni die bisher größte Vermeer-Ausstellung.28 der noch bekannten 37 Werke sind zu sehen


"Das Weinglas" von Johannes Vermeer entstand zwischen 1659 und 1661.

"Das Weinglas" von Johannes Vermeer entstand zwischen 1659 und 1661.

Von Christa Sigg

Draußen auf der Museumsplein knallen Skateboards auf den harten Stein, die Radler flitzen wie irre, und wer nicht gerade auf die Tram eilt, redet mit seinem Smartphone. Oder schafft sogar beides. Dieser Auftakt ist gar nicht verkehrt, um drinnen wie durch eine Blitzbetäubung zur Ruhe zu kommen - und zu staunen. Vor Menschen, die ganz bei sich selbst sind. Was für ein beneidenswerter Zustand! Es gibt keinen Maler, der das so faszinierend auf die Spitze getrieben hat, und vielleicht avanciert Johannes Vermeer auch gerade deshalb zum Künstler der Zeit?

Sicher ist jedenfalls, dass er nicht nur dem Amsterdamer Rijksmuseum die Ausstellung des Jahres beschert. 150 000 Karten waren schon vor zwei Wochen verkauft, die Öffnungszeiten sind nach diesem ersten Run prophylaktisch in den Abend hinein verlängert. Und wenn es am Freitag losgeht, muss man sich vermutlich beeilen, um ans gewünschte Zeitfenster zu gelangen. Es ist ja auch eine Sensation: 28 von 37 Vermeers sind noch nie in einer einzigen Ausstellung zusammengekommen. Vor einem Jahr waren es in Dresden elf Gemälde, freilich erweitert durch Arbeiten von Zeitgenossen. Mit immerhin 21 Werken fand in Washington und Den Haag die letzte monografische Schau statt. Fast 30 Jahre ist das her. Und jetzt dieser Hype um einen Künstler, der schon wenige Jahrzehnte nach seinem Tod 1675 nur mehr Kennern ein Begriff war. Noch im 19. Jahrhundert hat man Vermeers Bilder teils unter anderen Namen verkauft, die mehr einbrachten. Parallel zur Entwicklung der Fotografie nahm die Begeisterung einen neuen Anlauf.

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Selbst das Brot schillert: "Dienstmagd mit Milchkrug" ist ein von Vermeer in den Jahren 1658 bis 1660 geschaffenes Ölgemälde.

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Vermeers "Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster" (1658) erhielt den zwischenzeitlich übermalten Cupido an der Wand erst nach der Restaurierung zurück.

Von Ungefähr kommt das nicht. Wer vor dem "Milchmädchen" steht, meint nicht nur die "Wirklichkeit zu sehen", Vermeer war brillant darin, eine täuschend echte Welt zu zeigen. Doch dann ist da dieses Licht, das den Raum dominiert und zugleich jeden einzelnen Gegenstand umspült, formt und reflektiert. Die Brotkrumen flirren förmlich wie kleine Edelsteine, Vermeer hat Hunderte von leuchtenden Punkten aneinandergesetzt, pastos, denn Licht teilt sich nicht zuletzt auch über die Farbtextur mit. Das ist das eigentliche Spektakel in diesem Bild, während sich die Magd in aller Seelenruhe darauf konzentriert, dass der Milchstrahl da landet, wo er hingehört.

Überhaupt musste alles den rechten Platz haben. Immer wieder hat sich Vermeer korrigiert, Details verändert, das offenbaren neue Röntgenaufnahmen. Aus dem auffallenden Feuerkorb auf dem Boden ist ein dezenter Fußwärmer geworden. Und schließlich gibt es eine strahlend weiße Wand, so etwas hat sich nur Vermeer getraut. Deshalb griff bei der Dresdner Briefleserin von 1657/58 - übrigens nach Stadtansichten und Historienbildern das erste Interieur - ein unbekannter Maler entsprechend rigoros ein und ließ den ursprünglich gemalten Kupido verschwinden.

Vermeer blieb freilich nie bei einer Lösung stehen, es gibt auch nicht das, was man auf den ersten Blick als Entwicklung bezeichnen würde. So hat er plötzlich an einer mühsam gefundenen Komposition nicht weiter experimentiert, um einen ganz anderen Weg zu gehen. Das konnte die Einführung einer zweiten Figur sein: eine Dienstmagd etwa, die einen Brief überbringt, ein Galan, mit dem eine Schöne Wein trinkt - oder von dem sie sich beim Musizieren unterbrechen lässt. Genauso greift Vermeer frühere Ideen wieder auf, variiert sie, legt den Fokus auf etwas anderes. Deshalb ist diese Ausstellung weder chronologisch noch nach Themen geordnet. Der Zeitstrahl ganz am Ende verwirrt eher durch die teils beträchtlichen Sprünge und das Nebeneinander von vermeintlich frühem und spätem. Das macht das Datieren nicht einfacher.

Man weiß ja auch kaum etwas über diesen Künstler, es gibt weder Briefe noch Tagebücher, ja nicht einmal Notizen. Bekannt sind lediglich ein paar Eckdaten. Etwa, dass er 1632 an der schmalen Voldersgracht in einen Delfter Handwerkerhaushalt geboren wurde und bereits mit 21 Jahren geheiratet hat. Das allerdings war für ihn ein Aufstieg, Catharina Bolnes kam aus einer betuchten und vor allem auch katholischen Familie. Dass der Protestant Vermeer konvertiert ist, wurde bislang gerne als Anpassung an die gute Partie verstanden, zumal in einem streng calvinistischen Landstrich. Doch das Interesse des jungen Malers ging weit über die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs hinaus.

Vermeer scheint gerade den Jesuiten nahegestanden zu haben. Für Gregor Weber, Co-Kurator und am Haus Hauptabteilungsleiter der Bildenden Künste, ist das der Schlüssel zu einem neuen Verständnis. Die Konzentration auf Licht, Optik und die Fokussierung auf das Wesentliche sind grundlegende Themen der jesuitischen Literatur. Die Camera obscura, die durch ein winziges Loch ein konzentriertes Bild der Realität auf die gegenüberliegende Seite der Box projiziert, galt im Orden als Apparatur zur Beobachtung des göttlichen Lichts.

Sucht man die Gemälde nach solchen Details ab, findet man scharfe und unklare Stellen, die unser Gehirn nonchalant kombiniert. Bei der Klöpplerin etwa sind die Fäden ganz genau ausgeführt, das Drumherum wird alsbald diffus. Das mag auch eine großartige Form der Inszenierung sein, aber diese Zusammenhänge sind so überzeugend wie verblüffend. Genauso das in sich gekehrt Sein des Vermeerschen Personals, das Meditative, das das Publikum so besonders anspricht, dürfte von der katholischen Andachtsliteratur angeregt worden sein.

"Die Allegorie des katholischen Glaubens" von 1670-74, Vermeers letztes Gemälde vor dem wahrscheinlichen Herztod mit nur 43 Jahren, fasst seine Überzeugungen noch einmal zusammen. Auch wenn uns heute die zu Demonstrationszwecken geschaffene "Malkunst" sehr viel mehr zusagt - dieses Hauptwerk musste wohl nicht nur aus restauratorischen Gründen in Wien verbleiben - und sowieso das berühmte "Mädchen mit dem Perlenohrgehänge", dessen "unschicklich" offener Mund auf eine Fantasievorlage hinweisen.

So ist dieser Johannes Vermeer moralischer, als man das wahrhaben mag. Selbst ein Liebling wie die Berliner "Frau mit der Perlenkette" verdeutlicht ja nur, dass es eigentlich auf die inneren Werte ankommt. Die "Frau mit Waage" hat im Hintergrund gleich noch das Jüngste Gericht, und so könnte man das eine Weile weitertreiben.

Doch Vermeer war immer auch leidenschaftlicher Künstler, der die Welt einfing, wie er sie sah, der unterhalten und verzaubern wollte. Mit allerhöchster Qualität. Etwa zwei Werke sind im Jahr entstanden, Rembrandt hinterließ zehnmal mehr Gemälde, obendrein unzählige Zeichnungen und Radierungen. Von Vermeer haben wir noch nicht einmal Skizzen.

Insofern wird ein Vakuum bleiben, das die Fantasie beflügelt wie die leeren Wände. Oder das Innehalten, das der Betrachter ganz automatisch weiterspinnt. Was haben der Kavalier und das Mädchen miteinander zu bereden? Wem lächelt die "Dame am Virginal" zu? Was steht in den Briefen, die ihre Leserinnen so sehr bannen? Und wo ist der Geograf mit seinen Gedanken? Auf dem Stück Land, das er auf seinem Globus gerade fixiert? Im Interieur kennt die Welt keine Grenzen.

"Vermeer" ab 10. Februar im Rijksmuseum. Im Belser Verlag erscheint die deutsche Ausgabe des Ausstellungskatalogs (320 Seiten, 59 Euro)