Verlorene Augenblicke
Warum man das Handy auf Reisen mal aus der Hand legen sollte
4. Juli 2019, 13:34 Uhr aktualisiert am 4. Juli 2019, 13:34 Uhr
Vielen sind gute Storys und Posts auf Instagram und Co. wichtiger als das eigene bewusste Erleben eines Moments. Deshalb sollten wir auf Reisen unser Smartphone dringend mal aus der Hand legen. Ein Aufruf.
Instagram beeinflusst uns enorm. Wir richten unsere Mahlzeiten ästhetisch an, um ein Foto davon zu posten. Wir wollen zeigen, wie sportlich wir doch sind und posten uns im Work-out-Outfit. Fotos am Wochenende von Cocktails oder Bierflaschen sollen zeigen, dass wir keine Stubenhocker sind, sondern gerne die Nacht zum Tag machen.
Doch Instagram hat noch einen größeren Einfluss auf uns, als uns bewusst ist: Eine britische Studie eines Ferienhaus-Versicherers ergab, dass unglaubliche 40 Prozent der 18- bis 33-Jährigen ihren Urlaubsort nach Instagram-Tauglichkeit, also nach der sogenannten "Instagramability", aussuchen. Also danach, ob das Reiseziel auch gute Fotos für ihren Instagram-Feed hergibt. Ein trauriges Ergebnis. Denn es bedeutet, dass es für fast die Hälfte von uns wichtiger ist, andere zu beeindrucken. Anstatt einfach nur bei sich zu sein und den Augenblick zu genießen.
Ein und dasselbe Motiv tausendfach auf Instagram
Dieser Trend hat Folgen: Orte mit hoher Instagramability werden von Touristen geradezu überrannt. Und das, nur um ein Foto zu schießen, das fast genauso aussieht wie die tausend anderen mit demselben Motiv. Individualität gleich null. Natürlich ist es toll, dass man sich für seinen nächsten Trip auf Instagram inspirieren lassen kann. Doch erholen kann man sich an den gehypten Orten oft kaum mehr - es laufen einfach zu viele Menschen rum. Ein so besagtes Fleckchen Erde ist der Pragser Wildsee in Südtirol. Unter dem Hashtag "lagodibraies", der italienische Name des Sees, findet man auf Instagram fast 200 000 Fotos. War der Bergsee früher ein Geheimtipp, wird er heute von Touristen überrannt. Im Sommer 2018 wurden täglich bis zu 7 000 Fahrzeuge gezählt. Die Straße musste zeitweise gesperrt werden.
Seit es Snapchat gibt und seit Instagram die Story-Funktion eingeführt hat, hat das Zur-Schau-Stellen eine neue Dimension erreicht. Wir verspüren den Druck, vor allem aufregende Erlebnisse sofort mit unseren Followern zu teilen. Sollen ja schließlich alle mitbekommen, was für ein cooles Leben wir doch führen.
Storys verhindern, dass wir den Moment genießen
Das Schlimme daran: Schieben wir eine Kamera zwischen uns und einem Erlebnis, können wir den Augenblick bei Weitem nicht so genießen. Und uns später sogar nicht mehr gut daran erinnern. 2018 veröffentlichte die University of California eine Studie, die belegt, dass sich der Mensch vom Augenblick löst, wenn er durch eine Handykamera blickt - und die Erinnerung an das Erlebnis nicht tief gespeichert wird. Dieser Effekt heißt "photo-taking impairment effect". Selbst wenn wir unser Smartphone anschließend wieder aus der Hand legen, ändert das nichts.
Uns muss also bewusst sein, dass wir in dem Moment, in dem wir damit beschäfigt sind, eine coole Story für Instagram zu machen, selbst nicht so viel von diesem besonderen Moment haben. Ist es das wert? Betrachten wir das Ganze von der anderen Seite, von der Perspektive des Followers. Denn ein weiterer Nachteil des massiven Posting-Hypes auf Instagram ist: Wir bekommen dieses unangenehme Gefühl, dass wir gerade so ziemlich alles verpassen, wenn wir einfach nur in der Schule oder im Büro sitzen - wie eigentlich jeder Mensch.
Das Leben scheint an uns vorbei zu ziehen
Steffi ist seit ein paar Wochen in Neuseeland und übernachtet in einem Van am Meer. Max scheint irgendwie nur noch zu reisen und postet Fotos vom Surfurlaub in Mexiko. Und Klara geht gefühlt jeden Tag mit ihren Mädels zum Frühstücken oder trifft sich zu einem erfrischenden After-Work-Cocktail. Das Leben scheint an uns vorbei zu ziehen. Auch dafür gibt es einen Begriff: "Fomo - the fear of missing out".
Dabei vergessen wir, dass auch zuhause das Glück auf uns wartet. Bei jedem in anderer Form. Ob es dein Hund ist, der dich freudig empfängt, wenn du nach Hause kommst. Ob es der Kaffee und der leckere Kuchen bei Oma sind. Oder ein Abend mit deinen Kumpels oder deiner besten Freundin, an dem du dir alles von der Seele reden kannst.
Instagram ist und bleibt eine Scheinwelt, in der die meisten Menschen eine gefilterte und geschönte Version ihres Lebens zeigen. Wirklich authentisch ist auf der Plattform fast nichts. Deswegen: Lass dein Handy öfter mal in der Tasche und konzentriere dich auf das einzig Wichtige - dich und den Moment.
Florian Wende: Ich bin Teil des Problems!
Ja, ich gebe es zu: Ich reise gerne. Ich mache gerne Fotos. Und ich teile sie auch noch gerne über Instagram. Trotzdem kann ich den Moment genießen.
Das ist ein Geständnis. Ich habe im vergangenen Jahr 114 Beiträge auf Instagram geteilt. Der Großteil davon aufgenommen auf Reisen. Meine Fotos sind bearbeitet und störende Elemente, wie andere Touristen, ausgeblendet. Sie erscheinen nicht auf meinen Fotos. Ich trage zur Scheinwelt auf Instagram bei.
Warum tue ich es? Ich liebe Reisen. Ich liebe Fotografieren. Instagram ist ein schneller und einfacher Weg, meine Ergebnisse zu präsentieren. Und meine Reise zu dokumentieren. Ich erinnere mich gerne an besondere Momente, wenn ich durch meinen Feed scrolle. Instagram ist mein digitales Fotoalbum.
Ich möchte über einen Ort sprechen: Kelingking Beach, Indonesien. Alle gaukeln Idylle vor. Paradies. Freiheit. Das wäre es auch - ohne die Unmengen an Touristen. Darunter: ich. Wir drängeln uns einen schmalen Pfad entlang, um das beste Foto zu machen. Bei vielen landet dieses später auf Instagram. Wie ich dazu gekommen bin, zum Kelingking Beach zu reisen? Instagram. Es ist ein Teufelskreis.
Wir werden diesen Trend nicht umkehren können. Dafür erscheinen täglich zu viele Fotos auf Instagram. Zu viele stöbern darin nach ihrem nächsten Reiseziel. Das ist nicht verwerflich. Wer früher in Bildbänden geblättert hat, scrollt heute durch den Insta-Feed.
Was also können wir tun? Weiterhin reisen? Ja. Fotos machen? Unbedingt. Instagram? Auch das. Aber: bitte nicht live, nicht vor Ort. Wie wäre es, wenn sich jeder vor den Fotos ein paar Minuten Zeit nimmt? Durchatmen, die Atmosphäre aufsaugen, den Ort genießen. Dann erst kommt das Smartphone oder die Kamera zum Einsatz. Mir gelingt es so, den Moment zu genießen. Ohne Instagram. Die Plattform ist abends in der Unterkunft dran. Oder erst am nächsten Tag.