400. Ausgabe der Freistunde

Unsere Autorin über den Tod einer geliebten Person als Wendepunkt

Der Anker in einer Welt voller Probleme, Hass, Krieg und Streit ist weg. Über den Verlust eines geliebten Menschen.


sized
Von anonyme Freischreiben-Autorin

Ich sitze in meinem Bett. Meine Kuscheltiere neben mir, ein Buch auf meinem Schoß. Ich schaue gedankenverloren nach draußen. Das Buch, auf das ich mich eigentlich hätte konzentrieren sollen, habe ich längst vergessen. Mein Blick ruht auf dem Kirschbaum. Wie oft habe ich ihn angeschaut, bei jedem Wetter, nachts, am Tag, und hatte währenddessen deine Stimme im Ohr, die mir von deinem Leben erzählt hat. Die über eine lustige Situation in der Schule gelacht hat. Die mich gefragt hat, wie es mir geht und mich aufgemuntert hat, wenn es gerade nicht so lief.

Jetzt ist es still. Ich kann deine Stimme nicht mehr hören. Ich werde nie wieder auf deiner Brust liegen können und deinen Oberkörper vibrieren spüren, wenn du lachst. Du bist nicht mehr da. Du hast mich allein gelassen. Ich hebe das Buch auf meinem Schoß hoch und ziehe ein tränennasses Blatt Papier hervor. Deinen letzten Brief an mich. Du hast mich im Glauben gelassen, dass alles gut wäre. Dass wir alle Zeit der Welt hätten. Ich habe mich so sehr auf diese Zeit gefreut. Und jetzt soll sie einfach so vorbei sein? Wie konntest du das nur tun? Wie konntest du mich nur allein lassen? In dieser unfairen Welt voller Hass, Krieg, Streit, Probleme. Du warst mein Anker. Du hast mich an Land gezogen, wenn ich drohte, zu ertrinken. Ich ertrinke. Und du hilfst mir nicht mehr aus den Tiefen des Ozeans.

sized

Ich schaue weiter gedankenverloren auf das, was vom Kirschbaum im Garten übriggeblieben ist. Vor ein paar Wochen ist er gefällt worden. Er war krank. Auch er hat aufgegeben. All die Stürme und Regenschauer haben ihn müde gemacht. Er war alt. Du warst noch so jung. Er hat schon viel erlebt. Du hattest dein Leben noch vor dir. Er hat aufgegeben. Du hast aufgegeben. Niemand hat damit gerechnet. Eines Tages stand ein Mitarbeiter der Gemeinde vor der Tür und verkündete mit einem Satz und einer Säge das Ende des Baums. Eines Tages stand die Polizei vor der Tür und verkündete mit einem Satz das Ende deines Lebens. Nie wieder Kirschen. Nie wieder Kuscheln. Nie wieder Klettern. Nie wieder Umarmen. Nie wieder den Baum betrachten. Nie wieder deine Stimme hören.

Heute schaue ich noch immer mit traurigen Augen auf den Stumpf, der früher mal ein prächtiger Kirschbaum gewesen ist. Nie wieder werde ich seine Kirschen ernten, seine Äste besteigen oder sein Abbild ansehen können. Mein Blick wandert weiter durch den Garten. Ich registriere die kleine grüne Pflanze. Sie hat noch keinen starken Stamm und große Äste. Sie trägt noch keine Früchte. Ich hatte oft Angst, dass sie in stürmischen Nächten einknickt und aufgibt. Doch das hat sie nicht getan. Sie steht immer noch, wächst und gedeiht. Langsam, aber sicher wird aus ihr ein großer Baum. Auch ich stehe immer noch und mache weiter. Langsam, aber sicher lasse ich los.

Dieser Artikel ist Teil der 400. Freistunde-Ausgabe zum Thema „Wendepunkte“.

Eine Übersicht zu allen Artikeln der Jubiläums-Ausgabe