Auslandsblog
Kontinent der Kontraste: Veronika Erl ist auf Rundreise in Südamerika
3. Februar 2020, 13:03 Uhr aktualisiert am 3. Februar 2020, 13:03 Uhr
Südamerikas Kultur kennenlernen und ihr Spanisch verbessern - das war Veronika Erls Gedanke, als sie sich für ein Auslandssemester in Chile entschied. Die 21-Jährige kommt ursprünglich aus Mallersdorf-Pfaffenberg im Landkreis Straubing-Bogen und studiert Anglistik und Europäische Ethnologie an der Uni in Würzburg. Von Juli bis Dezember des vergangenen Jahres hat sie an der Universidad de Viña del Mar (UVM) gelernt und ist jetzt noch bis Ende Februar auf Rundreise in Südamerika. Diese führt sie per Anhalter in den Norden Chiles, weiter nach Peru, Kolumbien und dazwischen vielleicht nach Ecuador, bis sie schließlich von Bogotá in Kolumbien aus nach Hause fliegt. In ihrer Zeit im Ausland hat sie viel gelernt und erlebt - auch außerhalb der Uni. Das liegt vor allem an der schwierigen politischen Situation, die in Südamerika gerade herrscht. Über die Proteste in Chile, die sie hautnah miterlebt, hat sie für Freischreiben bereits geschrieben. Ihren Artikel darüber findest du hier.
Was sie sonst noch in ihrer Zeit in Südamerika erlebt, berichtet sie regelmäßig in ihrem Auslandsblog.
Eintrag 2: Proteste am Ende der Welt (18. Januar 2020)
Seit dem Beginn der Proteste im vergangenen Oktober hat sich in Chile einiges getan: der größte Erfolg ist wohl die bevorstehende "asamblea constitucional" im April, bei der über eine neue Verfassung abgestimmt wird. Doch während ich mich von meinen Freunden hier verabschiedet habe und zu den Torres del Paine gewandert bin, stand die Protestbewegung nicht still.
Inzwischen gibt es zwar weniger Demonstrationen, doch Menschen organisieren sich zum Beispiel in Nachbarschaftsversammlungen und diskutieren über Ideen und Forderungen für die neue Verfassung. Diese soll ihre Vorgängerin, Relikt aus der Zeit Pinochets, über 30 Jahre nach Ende der Militärdiktatur ersetzen. Sie fordern nicht nur höhere Mindestlöhne und Verbesserungen an Renten- und Gesundheitssystem. Auch das neoliberale System Chiles wird insgesamt infrage gestellt.
Schüsse aufs Gesicht
Viele Probleme in Chile werden zurückgeführt auf die wachsende Ungleichheit und die hohen Lebenshaltungskosten, die zu einer verschuldeten Mittelschicht geführt haben und einen sozialen Aufstieg fast unmöglich machen. Auch die Gewalt gegen Demonstrierende mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen, die durch gezielte Schüsse auf Gesicht und Augen schon Hunderten Menschen das Sehvermögen gekostet haben, weckt Erinnerungen an ebenjene Militärdiktatur und trägt nicht zur Beruhigung der Lage bei.
Blutrot beschmiert
Die Wut der Chilenen ist auch in Punta Arenas sichtbar. Obwohl der Weg in die südlichste Großstadt bezeichnenderweise "Route ans Ende der Welt" heißt, holen uns bunte Graffiti aus der Touristenwelt des Nationalparks zurück in die chilenische Realität. Sätze auf einer Absperrung am Meer lenken den Blick ab von der Magellan-Straße: "Sie haben uns alles genommen, sogar die Angst!" und "Das Volk bestiehlt man nicht!" steht da. Einen kleinen Spaziergang später stoßen wir auf eine Büste des Entdeckers Magellan selbst. Grimmig blickt er in die Ferne, während die rote Farbe auf seiner Statue wie Blut leuchtet - eine Anspielung auf das Blut der Demonstrierenden oder sogar auf die Genozide der Kolonialisierung?
Auf dem Friedhof, mit seinen beeindruckenden Gruften eine der Hauptattraktionen der Stadt, entdecken wir weitere Spuren der blutigen Botschaft auf dem Mausoleum der Familie Menéndez, historisch eine der einflussreichsten der Gegend, die laut neueren Forschungen auch maßgeblich am Genozid am indigenen Volk Selk'nam beteiligt war. Davor schläft seelenruhig ein pechschwarzer Hund mit rotem Halstuch. Auch wenn sich über die drastische Methode streiten lässt, bietet sich uns ein eindrucksvolles Bild. Denn dieser Hund ist nicht irgendein Straßenhund: Genau wie das Auge in Erinnerung an die verlorenen Augen oder der Alien - Piñeras Frau bezeichnete die Demos vor Monaten als "Alien-Invasion" - ist er eines der wichtigsten Symbole des chilenischen Protests.
Der Polizisten-Killer
Der sogenannte "negro matapacos", was auf Deutsch so viel wie "Polizisten-Killer" heißt, ist ein legendärer Straßenhund, der bei den Studierendenprotesten 2011 Carabineros angriff und so die Herzen der Protestierenden gewann. Unser "matapacos" würdigt uns allerdings keines Blickes - genauso wenig die Guanakos, eine patagonische Lama-Art, die wir auf dem Heimweg treffen. Im Gegensatz zu ihren Namensvettern, den Wasserwerfern der Polizei, die im chilenischen Dialekt wie ihre tierischen Vorbilder heißen, spucken sie höchstens ein bisschen, wenn man ihnen zu nahe kommt …
Eintrag 1: Patagonien (5. Januar 2020)
"Chile ist nur ein langer Strand", sagte mein Literaturdozent einmal, "zwischen Anden und Pazifik, Wüste und Patagonien." In letztere Region im Süden des amerikanischen Kontinents hat es mich nach meinem Auslandssemester verschlagen. In dieser endlos weiten, sagenumwobenen Gegend, die als Ende der Welt gilt, lebten einst indigene Völker wie die Kawesqar, Selk'nam oder Yámana, welche sich unter anderem auf Kanus durch die Fjorde bewegten. Den Namen Patagonien verpasste dem Landstrich erst Magellan, denn er hielt die Einheimischen für Riesen - patagones bedeutet "die mit den großen Füßen" - doch der Reisende sah lediglich Spuren ihres übergroßen Schuhwerks. Die vermeintlichen Giganten wurden nach der Ankunft der weißen Siedler größtenteils ausgerottet. Ihren Geschichten und Legenden spürt zum Beispiel der chilenische Filmemacher Patricio Guzmán in der empfehlenswerten Doku "Der Perlmuttknopf" (2015) nach. Die Faszination für das Ende der Welt bleibt: Reiseschriftsteller wie Bruce Chatwin und Paul Theroux widmeten Patagonien ganze Romane. Heute sind vor allem seine Nationalparks Touristenmagnete für Menschen aus aller Welt, die ihr Trekking-Equipment dafür um den Globus schleppen.
Als wir im winzigen Flughafen von Puerto Natales ankommen, weht uns sofort der heftige patagonische Wind um die Ohren. Der Ort begrüßt uns anders als das dürregeplagte Viña, wo es in fünf Monaten nur ein einziges Mal geregnet hat. Hier ist alles grün, Löwenzahn und Klee beugen sich Windböen und Regenschauern, das Wetter wechselt stündlich. Die Vegetation sieht fast europäisch aus, wobei hier auch endemische Arten wie die Lenga-Buche zu Hause sind. Auch fremd für uns: Im Sommer wird es hier bis 23 Uhr nicht richtig dunkel. Das 20000-Seelen-Städtchen Puerto Natales ist der letzte Stopp vor dem Nationalpark Torres del Paine. Wanderbegeisterte sind dort auf dem "O-Trek" bis zu zehn Tage lang durch den Park unterwegs, während wir die Hälfte des Rundwegs auf dem sogenannten "W-Trek" zurücklegen.
Weil es meine erste mehrtägige Wanderung ist, habe ich etwas Respekt vor unserem Vorhaben, aber es gibt keinen Grund zur Sorge: Die Wege sind gut ausgebaut und führen zu luxuriösen Campingplätzen mit Küche und Restaurant. Da Patagonien aber auch sehr teuer ist, schleppen wir unser eigenes Zelt, Schlafsäcke und Proviant mit. Am letzten Tag marschieren wir mitten in der Nacht los, um den Sonnenaufgang bei den Felstürmen Torres del Paine zu sehen. Wir sind alles andere als allein auf dem bekanntesten und beliebtesten Abschnitt der Strecke, aber die Aussicht und ein Schokoriegel um fünf Uhr morgens sind Belohnung genug für die Anstrengungen, die hinter uns liegen. Aus dem Nationalpark zurück erkunden wir Puerto Natales, das ausschließlich von und für Tourismus zu existieren scheint, aber einen gewissen Charme hat - und leckere Pizza für hungrige Wanderer. Nach kurzer Erholung führt uns unsere Reise weiter nach Punta Arenas, die südlichste Großstadt der Welt.