Essay

Von der Bedeutsamkeit des Zeugnistags


Zeugnisse aus längst vergangenen Tagen stimmen teils nachdenklich.

Zeugnisse aus längst vergangenen Tagen stimmen teils nachdenklich.

Er ist die Frucht der Arbeit von Monaten, gleichzeitig das bange Warten oder Hoffen auf gute Zensuren. Die Rede ist natürlich vom Zeugnistag. Unsere Gesellschaft ist daran gewöhnt, Leistungen und Ergebnisse im Schulnotenformat zu bewerten. Dass dahinter auch Begriffe wie "befriedigend", "ausreichend" oder "mangelhaft" stehen, vergisst man zuweilen.

Mein Abi ist bereits fast 25 Jahre alt. Stark verändert haben sich die Zeugnisse seither nicht. Mathematik, Fremdsprachen, Sport. Kunst, Musik und Geschichte sind nach wie vor samt Zahlen zwischen "1" und "6" dargestellt.

Jüngst jedoch habe ich ein Zeugnis unseres kürzlich verstorbenen Uropas in die Hände bekommen. Amüsiert betrachtete ich seine Leistungen und stieß dabei auf Interessantes. In seinem Abschlussjahr an der Städtischen Berufsschule Pfarrkirchen gab es keine Schule. "Schuljahr 1945-46 wegen Kriegsereignisse kein Unterricht" steht dort in geschwungenen Lettern.

Ganz ohne Digitalisierung und Home Schooling hat er dennoch seinen Abschluss als Mechaniker bekommen. Ja, "wegen Kriegsereignisse" - eine Formulierung, die eine der dunkelsten Epochen der deutschen Geschichte abbildet. Hat es ihn traumatisiert? Wahrscheinlich. Aber dennoch wurde er ein aufopferungsvoller Familienvater, ein liebevoller Ehemann und ein geschätzter Angestellter.

Am meisten beeindruckte mich allerdings, welche Werte durch das Zeugnis vermittelt wurden. Denn in der Liste der Fächer und Bewertungen sind nur zwei in Großbuchstaben ausgewiesen: Betragen und Fleiß. Wie er sich also in Buchführung oder Fachrechnen schlug, war der Schule wohl nur kleine Buchstaben wert. Doch Verhalten und Eifer im Unterricht, das wurde mit "sehr gut" bewertet. Und ist das nicht auch im Grunde alles, was man über ihn wissen muss?

Zeugnisse aus längst vergangenen Tagen stimmen teils nachdenklich.

Zeugnisse aus längst vergangenen Tagen stimmen teils nachdenklich.

Klar haben die einzelnen Fächer ihre Berechtigung, doch der Charakter eines Menschen, sein Wesen, das ist es, was wirklich zählt. Dass unser Uropa hier seine größten Stärken hatte, hätte ich auch ohne die beiden "sehr gut" gewusst. Man kann diese Attribute ohnehin nicht in Schulnoten messen. Ich finde es dennoch schön, dass das Zeugnis unsere Wahrnehmung unseres Uropas bestätigte.

Trotzdem mag es sein, dass auch dieses Jahr bei dem einen oder anderen unerfreuliche Dinge im Zwischenzeugnis stehen. Dazu möchte ich nur so viel sagen: Mich hat in den 25 Jahren niemand nach meinen Mathenoten gefragt. Gott sei Dank.

Wenngleich ich mir manchmal wünschen würde, dass ich besser aufgepasst hätte. Immer dann nämlich, wenn ich meinen Töchtern die Mathe-Hausaufgaben erklären möchte, und die Vorgehensweise selbst erst googeln muss. Aber das ist eine andere Geschichte.