Herzliche Idee
Single-Wandern: Warum Anbandeln in der Natur oft leichter fällt
9. September 2024, 17:00 Uhr
Im Advent veröffentlichen wir jeden Tag eine Plus-Geschichte aus dem Jahr 2024 kostenlos in voller Länge. Hinter jedem Türchen wartet eine der Top-Geschichten des Jahres! Wenn Ihnen gefällt, was Sie lesen, schließen Sie doch ein Schnupperabo ab! Als Plus-Abonnent lesen Sie unsere besten Reportagen, Multimedia-Storys und exklusiven Meldungen aus Ihrer Region das ganze Jahr über in voller Länge auf www.idowa.de.
Im Video erzählt Patrick Beckerle aus der Digital- und Seite-3-Redaktion wie die Geschichte hinter diesem Türchen entstanden ist.
Video zum Thema:
Christinas "Wunderpille" sieht ein bisschen aus wie Aspirin - ist aber keines. Nicht einmal eine Tablette. "Schütt Wasser drüber", sagt sie und lächelt erwartungsvoll. Ein wenig Mineralwasser reicht aus, schon geht die "Wunderpille" auf und entfaltet sich zu einem Stofftuch. Einem kühlen Stofftuch. An diesem goldenen September-Nachmittag mit Temperaturen jenseits der 30 Grad ein besseres Geschenk als jede Rose. Die Aufmerksamkeit ihrer Mitwanderer ist ihr so sicher. "Für mich ist das echt ein Lebensretter", sagt Christina und tupft sich auch selbst die Stirn ab.
Die Landshuterin gehört zu den gut 50 Menschen, die an diesem Sonntag gemeinsam im Nationalpark Bayerischer Wald bei Riedlhütte (Kreis Freyung-Grafenau) wandern. Die Gruppe ist bunt gemischt: Die meisten dürften Mitte 40 oder Anfang 50 sein, aber es gibt auch jüngere Gesichter und ein paar graue Haare. Manche - wie Christina - haben ganz offensichtlich Erfahrung, sind mit Wanderschuhen, Rucksack und Sonnenhut schon passend ausgestattet. Andere sind eher leger in Jeans und T-Shirt unterwegs - ein Mann verzichtet gleich komplett auf Schuhe und Socken. Das Einzige, was alle gemeinsam haben: Sie haben sich über die Gruppe "Single-Wandern Every-one" verabredet.
Unterwegs muss man nichts erzwingen
Der Name ist Programm. Die Teilnehmer sind vor allem Singles, die nicht nur zusammen wandern, sondern im besten Fall auch anbandeln wollen. Vorstellungsrunden oder feste Abläufe gibt es dafür nicht. "Single-Wandern ist komplett unverbindlich", sagt Christina. Wer will, lässt sich auf den Ratsch und die Flirts ein. Wer nicht will, geht eben etwas schneller oder lässt sich zurückfallen.
Christina ist schon seit einigen Jahren in der Gruppe dabei. Im Raum Landshut, wo sie sich auskennt, gibt sie auch selbst Führungen. Heute ist sie aber nur Gast, die Route hat Hans ausgesucht. Hans gehört zu den "Single-Wander-Pärchen", die sich bereits gefunden haben. Er und seine Freundin haben heute ihr Einjähriges, erzählt er, als er die geplante Route vorstellt. Die Teilnehmer klatschen und freuen sich mit ihnen.
Als die Gruppe in Richtung Nationalpark startet, hängt sich Christina an Martina, eine weitere erfahrene Wanderin. Beide sind regelmäßig dabei und verstehen sich gut. Martina weiß noch, wie schüchtern sie das erste Mal war. "Das war vor drei Jahren. Ich bin hingefahren, hab die vielen Leute gesehen und hätte mich fast nicht getraut mitzugehen", erzählt sie. Heute kann sie darüber lachen, damals wäre sie fast gleich wieder umgedreht. Christina hat sie an die Hand genommen und ihr alles erklärt. Seitdem sind die beiden Frauen bei gemeinsamen Wanderungen nie weit voneinander entfernt.
Ob sie schon jemanden kennengelernt hat? Christina seufzt. "Bei Wanderungen im Bayerischen Wald ist das schwierig. Wenn ich erzähle, dass ich aus dem Raum Landshut bin, dann heißt es oft ‚Naa, des is nix, i wui ja koa Fernbeziehung ned'", sagt sie und muss selbst kurz lachen. Die Landshuterin nimmt es locker. "Ich bin hier, damit ich einen schönen Tag erlebe. Das kann ich auch, ohne jemanden kennenzulernen." Martina stimmt zu. Beim Single-Wandern gehe es weniger ums Suchen als vielmehr ums Sich-Finden. Man muss nichts erzwingen. Unterwegs kommt man irgendwann schon von allein ins Gespräch.
Dabei sind die Unterhaltungen deutlich offener, als man es sonst von einem Kennenlernen erwarten würde. So hört man an diesem Nachmittag auch Geschichten, die auf den ersten Blick nicht recht zur sommerlichen Idylle des Bayerischen Waldes passen wollen. Über frühere Beziehungen, die gescheitert sind. Über Scheidungen. Über verstorbene Partner. Im Alltag würde man sich vielleicht schwertun, darüber mit jemand Fremden zu sprechen. Aber inmitten der Natur entsteht unter den Wanderern schnell ein Gefühl der Vertrautheit. Und zwischen Bergen und Bäumen wirken die eigenen Sorgen und Probleme auch deutlich kleiner. Rechtfertigen muss sich hier niemand.
Hans führt die Gruppe heute über einen Bohlensteg durch das Hochmoor in Richtung Kreuzotterweg. Unterwegs hält er immer wieder kurz an und erläutert die Eigenheiten der beeindruckenden Naturlandschaft. Man merkt, dass er mit Leidenschaft bei der Sache ist. Doch an diesem heißen Spätsommertag ist die Konzentration der Mitwanderer nicht unerschöpflich. Viele suchen während der Pausen nach Schatten und ratschen anderweitig.
"Ich mag, dass das Single-Wandern so entspannt ist und unterschiedlichste Menschen zusammenbringt", erzählt etwa Brigitte. Sie ist seit Januar Teil der Gruppe. Dabei suchte sie eigentlich nur neue Leute, mit denen sie wandern gehen kann - keinen Partner. "Ich wollte niemanden kennenlernen und bin einfach nur so mit", erzählt sie. Wie das so ist: Natürlich hat sie doch jemanden kennengelernt. Dieter, der jetzt an ihrer Seite geht und aufmerksam zuhört, wie Brigitte die Geschichte ihres ersten Zusammentreffens erzählt. Das war im Februar, seitdem sind die beiden ein Paar. "Wir haben einfach gemerkt, dass wir beide Wander-Verrückte sind und auch sonst gut zusammenpassen", sagt Brigitte und zuckt mit den Schultern. Dieter lächelt und sagt nichts. Braucht er auch nicht. Sein Blick sagt genug.
Ein Schnapserl und Pralinen als Eisbrecher
An der Nationalparkstraße legt die Gruppe eine Rast ein. Für die Wanderer ist das eine gute Gelegenheit, sich gegenseitig anzusprechen und ins Ratschen zu kommen. Dabei helfen kleine Tricks oder Geschenke als Eisbrecher. Christina hat heute etwa selbst gebrannten Erdbeerlikör samt Plastik-Stamperl dabei und verteilt großzügig an jeden, der möchte. Ein anderer Wanderer holt aus seinem Rucksack eine Schachtel Lindt-Pralinen hervor. Er hat extra einen Kühlakku mitgeschleppt, um die Schokolade vor dem Schmelzen zu bewahren, und bietet den Frauen der Gruppe nun jeweils eine an. Der Vorrat reicht leider nicht ganz.
Wolfgang - ein zackiger Typ mit blauem Shirt und kurzer Hose - beobachtet die Szene und grinst. Er ist ein Urgestein der Single-Wandern-Gruppe und schon seit zehn Jahren mit an Bord. Dabei hat er sein privates Glück - seine Gertraud - bereits gefunden. Natürlich bei einer Single-Wanderung. Am 18. Juli 2018. Das Datum weiß er noch genau. Warum er immer noch mitgeht? "Einfach, um die anderen zu treffen", sagt er.
Die Single-Wandern-Gruppe ist für ihn ein stückweit wie Familie. Manche Gesichter kennt er seit Jahren. Einige - wie er selbst - bleiben dem Format auch treu, nachdem sie jemanden gefunden haben. Hier entstehen nicht nur Beziehungen, sondern auch Freundschaften. Wieder andere kommen irgendwann eben nicht mehr. Auch das ist okay. Wolfgang fragt sich dann bloß, ob sie nicht mehr wollen oder ob sie nicht mehr Single sind.
Der Weg nähert sich mittlerweile dem Ende - und die Gruppe dem Wirtshaus. "Das finde ich eigentlich immer am schönsten, wenn ich ehrlich bin", sagt Wolfgang. Viele Wanderer kehren nach der Tour noch zusammen ein, ratschen bei Bier und Brotzeit weiter, tauschen Geschichten aus. Ein entspanntes Ende für einen entspannten Tag.
Christina erzählt am Tisch bei einem Stück Kuchen, wie sie einmal in einer Gruppe von 126 Leuten bei Simbach unterwegs waren und dabei eine kleine Eisdiele fast zur Verzweiflung gebracht haben. Wolfgang lässt sich sein Weißbier schmecken und schmiedet bereits Pläne für einen der nächsten Ausflüge, der zum Gardasee führen wird. Ein anderer Mann kommt zum Tisch dazu, klinkt sich ein. Er ist auf der Suche nach etwas Festem, erzählt er. "Dann nimm doch mi, i bin a Festere", scherzt Christina und lacht. Er lacht zurück.
Wie das Single-Wandern abläuft
Die Single-Wandern-Gruppe in Niederbayern gibt es bereits seit 2011. Seitdem ist sie kontinuierlich gewachsen, weswegen sich mit der Zeit daraus verschiedene Gruppen für unterschiedliche Altersklassen gebildet haben. Die „Everyone“-Gruppe richtet sich dabei an jeden, unabhängig vom Alter. Einzige Bedingung: Die Teilnehmer sollten Singles sein. Paare sind nur erlaubt, wenn sie sich bei einer der Wanderungen kennengelernt haben.
Gewandert wird für gewöhnlich einmal pro Woche, meist am Sonntag. Ausnahmen bilden die Wintermonate Dezember, Januar und Februar, in denen bis auf Ausnahmen keine Wanderungen stattfinden. Die Wanderziele wechseln sich jede Woche ab. Regelmäßig gewandert wird zum Beispiel im Raum Landshut, dem Rottal oder der Umgebung von Passau. Prinzipiell kann aber jedes Gruppenmitglied eine eigene Wanderroute anbieten und mit den anderen teilen.
Die meisten Ausflüge sind „Fun-Wanderungen“, bei denen der Spaß im Vordergrund steht. Sie haben in der Regel eine Strecke von sechs bis zehn Kilometern und sind auch für ungeübte Wanderer gut machbar. Hin und wieder werden aber auch „Power-Wanderungen“ angeboten, die etwas anspruchsvoller und auch länger sind.
Die Gruppe organisiert sich vor allem über WhatsApp, betreibt aber unter www.singlewandern-everyone.de auch eine Homepage. Termine für die Wanderungen sowie die jeweiligen Treffpunkte werden hier in einem Kalender gesammelt. Eine Anmeldung im Vorfeld ist nicht nötig.