Bayern
Ein Jahr Ukraine-Krieg: Vier Familien und ihr neues Leben in München
23. Februar 2023, 18:47 Uhr aktualisiert am 23. Februar 2023, 18:47 Uhr
Familie Bulbas: "Niemand weiß, wie es weitergeht"
Liudmyla Bulbas hat gut Fuß gefasst in München. Im April des vergangenen Jahres kam sie mit Tochter Sofiia (11), Sohn Mykyta (5) und Hündchen Lola (8) in München an. Bekannte halfen ihr, eine Arbeit zu finden. Schon im Juli konnte sie in einem renommierten Architekturbüro anfangen. "Man kann nicht nur rumsitzen", sagt sie. Man muss irgendwie weiterleben." Und sie betont: "Ich bekomme also keine Sozialhilfe." Bald ziehen sie in eine andere Wohnung, die Liudmyla selbst gefunden hat. Die Ein-Zimmer-Wohnung in Thalkirchen, in der die drei bisher wohnen, fanden sie dank der Unterstützung von Freiwilligen. Auch dort wurden sie gut aufgenommen. "Unsere Nachbarn sind so toll, sie haben uns so sehr geholfen", sagt Liudmyla Bulbas. "In den ersten zwei Monaten hätte ich sonst gar nichts machen können. Ich weiß nicht, ob alle so ein Glück hatten. Für uns ist das wirklich ein Geschenk!"
Vor einem Jahr hatte sich Liudmyla Bulbas mit ihren Kindern ins Autos gesetzt und war losgefahren. Einen Monat harrten sie zunächst in der Westukraine aus. "Alle sagten, in zwei drei Wochen ist alles wieder in Ordnung" erinnert sich Bulbas. "Aber das war nicht so." Doch einfach nur abwarten und Nachrichten lesen, das sei nicht zu ertragen gewesen, erzählt Bulbas. "Also habe ich gesagt: Wir müssen los."
In München hat Liudmyla Bulbas Freundinnen aus ihrer Schulzeit, außerdem Kontakte über ihren Job. Die 40-Jährige hat in Kiew im Rathaus gearbeitet, war stellvertretende Leiterin der Verwaltung für internationale Beziehungen der Stadt, spricht sehr gut deutsch und englisch. Der Job wartet auf sie, "bisher habe ich dort meinen Platz, man weiß aber nicht, wie lange noch", sagt sie.
Hier in München geht Tochter Sofiia (11) nun in die vierte Klasse. Wenn sie um 16 Uhr nach Hause kommt macht sie abends im Onlineunterricht noch die fünfte Klasse ihrer Kiewer Schule. "Das ist schon schwierig, aber wir wollen das Jahr nicht verlieren. Und niemand weiß ja, wie es weitergeht", erklärt die Mutter. Sohn Mykyta, der in zwei Wochen sechs wird, geht seit September in den Kindergarten. "Er versteht mittlerweile einiges, es ist also schon leichter als am Anfang", sagt Liudmyla Bulbas. "Aber natürlich würde er gerne nach Hause." Samstags geht es für beide noch in die ukrainische Schule. Liudmyla Bulbas lacht: "Es ist viel zu tun bei uns." Dass die Kinder, vor allem auch der Kleine, ukrainisch hören, ist ihr wichtig. Auch, dass er "einfach mit anderen Kindern zusammen ist. Und er muss lesen und schreiben lernen", sagt sie. "Wir sind sehr froh, so Anschluss zu haben."
Liudmylas Eltern, ihre Schwester samt Familie und auch ihr Mann sind noch immer in Kiew. Die Sorge um sie hört man in ihrer Stimme. "Meine Eltern sind alt, sie wollen nicht weg von Haus und Hund und Katze", sagt sie. Ihre Schwester bleibt, weil ihr Mann und ihr 21 Jahre alter Sohn nicht ausreisen dürfen. Liudmyla Bulbas Mann dürfte aus gesundheitlichen Gründen sogar ausreisen, ist aber vor allem wegen der Arbeit in Kiew geblieben. Im Ausland hätte er es schwer, wegen der Sprachbarriere. "Also wohnen wir jetzt gerade eben so", sagt Liudmyla Bulbas.
"München ist eine so schöne Stadt", sagt Liudmyla Bulbas. Wenn sie am Rathaus die ukrainische Flagge wehen sieht, bedeutet ihr das viel. "Es ist wichtig für uns zu wissen, dass wir nicht vergessen sind." Myriam Siegert
Anna"Ich vermisse meine Freunde"
Annas Englisch ist mittlerweile richtig gut, bei Deutsch ist sie noch unsicher. Das verbessert sie aber kontinuierlich im Deutsch- und im Integrationskurs.
Die 18-Jährige lebt mit ihrer Mutter, ihrer älteren Schwester und dem siebenjährigen Bruder in Untergiesing in einer kleinen Wohnung. Vor einem Jahr dachte Anna noch, der laute Knall vor dem Fenster in Odessa käme von einem Feuerwerk. Ihren Eltern wussten: Der Krieg hat begonnen. Eigentlich wollten sie das Land nicht verlassen, doch nach einer Woche war klar, sie müssen weg, es ist zu gefährlich. Nur der Vater bleibt alleine zurück.
Über Polen flohen sie nach Deutschland. Am 20. März checkten sie für zwei Tage in ein Hotel ein, danach zogen sie in ein Aufnahmelager. "Plötzlich mit 3000 Menschen in einem Raum zu sein, war sehr ungewohnt", erinnert sich Anna.
Dann wurde ihr Bruder krank, so schwer, dass er ins Krankenhaus musste. Er litt an einem schweren Vitaminmangel. Eine Belastung für alle. Nach seiner Genesung zog die Familie in ein zweites "Camp" wie Anna es nennt.
Dann erkrankte ihr kleiner Bruder erneut, musste wieder ins Krankenhaus. Die Mutter begleitete ihn. Anna und ihre Schwester mussten eine Weile selbst zurechtkommen. Über den Verein Münchner Freiwillige wurde ihnen eine Übergangswohnung vermittelt, dann eine Bleibe am Kolumbusplatz. "Alle haben uns immer wieder so toll geholfen!"
Dem Bruder geht es besser, seit September geht er in die Schule. Wenn Anna gerade nicht lernt, geht sie gerne spazieren, besucht eine Tanzschule oder trifft sich mit neu gewonnenen Freunden. "Es ist schön hier", sagt sie. Anna wirkt fröhlich, wenngleich nicht zu überhören ist, was ihr an ihrer Heimat alles fehlt. "Immer wenn ich meine Sprache in der Stadt höre, freue ich mich", gibt sie zu.
Anna will studieren: Informatik reizt sie, später möchte sie programmieren. Deshalb bleibt Anna gemeinsam mit ihrer Mutter, ihrer Schwester und dem kleinen Bruder erstmal in Deutschland. "Zwei Jahre vielleicht", sagt sie. Obwohl sie sich hier eingelebt hat: Sie vermisst das Leben, den Vater und ihre Freunde sehr. Auch wenn sie jeden Tag mit ihrem Papa übers Handy spricht. Anna: "In meiner Heimat gibt es momentan Strom, deshalb können wir reden. Nur: Am Telefon, das ist nicht das Gleiche. Das ist für uns alle manchmal sehr traurig."
Carmen Merckenschlager
"Liebe und eine Umarmung helfen"
Anton (37) und Juliya (36) haben sich als Mathematikstudenten in Charkiw lieben gelernt. Sie haben in Patchwork zwei Kinder. Von Lwiw aus arbeiteten beide für ein Berliner-IT-Unternehmen.
Am 24. Februar 2022 rief um 5 Uhr morgens eine Freundin aus Charkiw an, Panik in der Stimme: "Die Fenster wackeln. Ich höre Explosionen." Juliya S. erinnert sich: "Ich konnte es nicht glauben, ich konnte den Krieg nicht akzeptieren. Die Welt sah doch für uns noch so gleich aus." Ihr Mann Anton und sie kochten erstmal Tee - wie immer. Sie beschlossen, die Kinder für diesen Tag von Kindergarten und Schule abzumelden. Im Firmen-Chat alarmierte sie, wie viele Abwesenheitsnotizen aufploppen - von Kollegen aus Charkiw. Anton sagte zu seiner Familie: "Packt eure Sachen, wir fahren an die Grenze."
In einer Flohmarkt-Whats-app-Gruppe war Juliyas Herbergssuche aufgetaucht. "Es war mir ein Bedürfnis, diesem starken Ohnmachtsgefühl bei Kriegsbeginn zu entfliehen, indem ich sofort konkret helfe", erklärt die Fotografin: "Die ukrainischen Kinder haben vom Alter her zu meinen drei gepasst. Mein Herz hat entschieden, sie aufzunehmen - ohne das vorher überhaupt mit meiner Familie abzusprechen". Ihr Gartenhaus ist nur ein Raum - stressig für eine Mutter mit zwei Kindern. Doch schnell entwickelt sich eine
Frauenfreundschaft: "Juliya und ich, wir sind ein Match", sagt Helferin Anja. Juliya, sei "feinfühlig, westlich, international".
Das große Glück: Die ITlerin konnte von Zell-Ebenhausen weiter mit ihrem Job Geld verdienen. Ihren Sohn Andrej nahm die Biberkor-Montessori-Schule ohne Schulgeld auf.
Das Haus in Lwiw wurde Anlaufstelle für Bekannte und Ausgebombte. "Zwischenzeitlich haben 32 Menschen bei mir gewohnt. Das ging besser, als gedacht", sagt Anton S.
Nach zehn Monaten Trennung ist die Familie seit Weihnachten vereint. Anton ist ausgemustert aus der Armee. Das Ehepaar hat in der psychischen Ausnahmesituation, mit täglichen Schocknachrichten von daheim "gute und schlechte Gefühle abgeschaltet - nur funktioniert". Anton sagt: "Die Gefühle kehren langsam zurück". Juliya meint: "Liebe und eine Umarmung helfen." Die schüchterne Anastasiia (4) hat ihr Haustier wieder, aus ihrem Kinderzimmer in Lwiw: eine Spinne namens "Charlotte". Und Andrej (13) gefällt in Bayern "alles".
Eva von Steinburg
Michail Melny: "Keiner hat mit dem Einmarsch gerechnet"
Wer mit Michail Melnyk (56, Namen geändert) spricht, der spürt den Schrecken des Krieges. Die Stimme klingt rau. "Wir hätten nicht mit dem Angriff gerechnet", sagt Melnyk, der bei Kriegsbeginn mit seinen drei Töchtern Olena, Olga, Ofelia (8, 11 und 18) und seiner Frau Natalia in Kiew lebte. "Wir waren eine normale Mittelschichts-Familie", erzählt er. Und dann fielen die ersten Bomben in Kiew. Familie Melnyk wollte in einen Luftschutzbunker - alle überfüllt. Sie fanden Unterschlupf in der Kirche. Der beengte und überfüllte Keller diente als Schutzraum vor Bombeneinschlägen. Schon am nächsten Morgen entschied sich die Familie, Richtung Westen zu fliehen. Eine tagelange Irrfahrt. "Erst wollten wir nach Lwiw, meine Geburtstadt", erinnert sich Michail Melnyk. Doch Tausende Ukrainer flüchteten Richtung Westen. Kilometerlange Staus. Die Fahrt über knapp 600 Kilometer dauert normal sieben Stunden. "Nach 26 Stunden erreichten wir eine Tankstelle, kurz vor Lwiw", erinnert sich Melnyk. Dort konnten sie auch tatsächlich tanken. Keine Selbstverständlichkeit, wenn Hunderttausende Autos unterwegs sind. "Zum Glück hat meine Kreditkarte funktioniert", sagt Melnyk. Aber auch in Lwiw: Explosionen. Wieder fühlte sich die Familie nicht sicher. "Also fuhren wir weiter Richtung polnische Grenze, nach Stryj", sagt Melnyk. Erneut heulten die Sirenen. Weiter zur slowakischen Grenze. Nach drei Tagen erreichten sie die Slowakei. Nach einer weiteren Nacht im Auto konnten sie die Grenze passieren, landeten in einem überfüllten Auffanglager. Ein Russe sprach die Familie dort an und bot Hilfe. Völlig übermüdet fuhren sie ihm hinterher. "Er brachte uns in eine Hütte, mitten auf dem Land, mit hohen Zäunen und einem elektrischen Tor", erinnert sich Melnyk, "er wollte unsere Papiere, um uns angeblich irgendwo zu registrieren. Die haben wir ihm natürlich nicht gegeben." Michail Melnyk fühlte sich unwohl. Seine Familie hätte sich am liebsten ein paar Stunden ausgeruht. Aber: "Sonst war niemand da, keine andere ukrainische Familie, außer uns. Da stimmte irgendetwas nicht", sagt er. Waren sie in die Hände von Menschenhändlern geraten? Das Bauchgefühl stimmte einfach nicht. Die Familie Melnyk wartete, bis die Luft rein war, stieg ins Auto und verschwand Hals über Kopf. Ohne Ziel fuhren sie los, mitten in der Nacht. Doch wohin sollte es jetzt gehen? "Wir wussten, dass unser Pfarrer in Kiew einen ukrainischen Kollegen in München hat", erzählt Melnyk. Ein paar Telefonate später erreichten sie den Münchner Pfarrer und es war klar: "Wir fahren nach München und versuchen dort unser Glück." Nach sechs schlaflosen Nächten erreichten sie ihr Ziel, endlich in Sicherheit. Langsam findet die Familie Melnyk in einen Alltags-Rhythmus. Die älteste Tochter Ofelia studiert inzwischen. Sie hat ein Stipendium im Ausland bekommen. Die beiden jüngeren gehen täglich in die Schule. Alles ist beinahe so normal wie damals in der Ukraine. Aber: "Wir kämpfen ein wenig mit der Sprache." Sie nehmen Deutschunterricht. "Wir wollen uns ein Leben in München aufbauen", sagt Melnyk. Hüseyin Ince