Bayern

"Das Gefängnis ist ein Totenhaus"

Für den "Parkhaus-Mord" an seiner Tante war Benedikt Toth knapp 17 Jahre in Haft. Er selbst bestreitet die Tat. Seit wenigen Tagen ist er frei


"Den Knast bekommt man nicht aus der Jacke geschüttelt", sagt Benedikt Toth.

"Den Knast bekommt man nicht aus der Jacke geschüttelt", sagt Benedikt Toth.

Von Natalie Kettinger

MÜNCHEN - Für den Mord an seiner Tante, der Münchner Parkhaus-Millionärin Charlotte Böhringer, wurde Benedikt "Bence" Toth (48) zu lebenslanger Haft mit besonderer Schwere der Schuld verurteilt. Er saß fast 17 Jahre im Gefängnis, die meiste Zeit in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Straubing. Am Montag kam er auf Bewährung frei. Bis heute beteuert er seine Unschuld.

AZ: Herr Toth, Sie haben fast 17 Jahre im Gefängnis gesessen. Was war das Schlimmste daran?

BENEDIKT TOTH: Die Desillusionierung. Da überhaupt reinzukommen, wie ich reingekommen bin.

Wie hält man sich über all die Zeit aufrecht?

Wenn man Erfahrungen gesammelt hat in dem Leben, das man eventuell gehabt hat, kann man sie - wenn sie gut konserviert sind - dann als Kredit hernehmen fürs Gemüt. Und als Ausblick, dass es noch einmal so sein könnte. Außerdem sollte man etwas finden, das die Routine aufbricht, die sonst tötet.

sized

"Vielleicht schreibe ich ein Buch für diejenigen, die in der heutigen eingeebneten Zeit noch ein restkritisches Denken haben." Benedikt Toth im Gespräch mit AZ-Redakteurin Natalie Kettinger.

sized

"Geld war mir schon immer egal. Jeder, der mich kennt, findet das Mordmerkmal Habgier absurd", sagt Toth.

Was haben Sie gefunden?

Ich habe ein bisschen musiziert: versucht, in ein Saxofon zu blasen und Saiteninstrumente zu lernen. Ich habe gelesen, mich in Italienisch, Französisch, den ganzen romanischen Sprachen, ein wenig fit gemacht.

Was hilft noch?

Man sollte jemanden haben, mit dem man den Weg gehen kann, dessen Länge in meinem Fall zunächst ja nicht absehbar war. Diese Ungewissheit ist grausam. Dass mein Weg 17 Jahre dauert, stand ja erst kurz vor Schluss fest.

Wer hat Sie begleitet?

Meine Eltern, mein Bruder, meine Verlobte damals, meine herausragenden Anwälte. Das ist mehr, als die meisten anderen haben. Es ist schon Luxus, in einem Irrsinn gefangen zu sein und zu wissen, du hast Feedback von Leuten, die ihr Herz und Hirn beinander haben, die dir nicht schönreden, aber trotzdem bestätigen, dass du nicht der Wahnsinnige bist. Das Universum Gefängnis kann sich ein normaler bürgerlicher Mensch, der ich war, ja gar nicht vorstellen. Der Schock, da reinzukommen, war so groß, dass ich gar nicht mehr schockiert war.

"Liebe lässt sich zerstören. Was bleibt, ist Haltung"

Inwiefern?

Stadelheim war ein Irrenhaus, aber die JVA Straubing ist ein absolutes Totenhaus: Die Leute haben stumpfe Augen, sie bewegen sich wie lebende Leichen - zumindest war es so, als ich ankam. In der Zwischenzeit hat sich das drastisch geändert.

Warum?

Die meisten sind auf Drogen, auf legalen. Es ist alles ganz offiziell. Wenn man nicht die Härte hat, diesen Schmerz zu ertragen, den die Leere dort auslöst und die ganzen Verluste, die du erleidest, dann wird's eng. Auch wenn die meisten wissen, warum sie dort sind: Das ändert nichts daran, dass dieses Phänomen im Kopf festsitzt. Und was macht man, wenn man den Schmerz wegdrücken will? Man betäubt sich mit Pillen.

Haben Sie sich in der Haft auch mit Medikamenten betäubt?

Ich habe keine einzige Substanz angefasst und sogar vermieden, Aspirin zu nehmen.

Es gibt Menschen, die sagen, Sie hätten den Mord an Ihrer Tante einfach zugeben sollen - dann hätten Sie vermutlich "nur" Lebenslänglich bekommen, ohne die besondere Schwere der Schuld, und wären vielleicht schon nach zehn Jahren rausgekommen. Was sagen Sie dazu?

Was ist denn das für eine opportunistische Scheiße! Natürlich hätte ich es mir leichter machen können, auch im Gefängnis. Ich mache es mir nicht schwer, weil es mir gefällt. Aber Prinzip muss für mich Prinzip bleiben. Wenn's weh tut, bin ich wenigstens am Leben. Ich gebe doch keinen Mord zu, den ich nicht begangen habe, nur damit ich ein paar Jahre früher rauskomme. Haltung ist der einzige Wert an sich. Nichts anderes zählt. Gesundheit ist kein Wert an sich, Freiheit nicht - das kann alles sofort weg sein. Und Liebe lässt sich zerstören. Was bleibt, ist Haltung.

Wann wussten Sie, dass Sie freikommen?

Als das Tor aufging. Am 6. April ist mir der Beschluss von der Strafvollstreckungskammer Straubing zugestellt worden, dem ich entnommen habe, dass es wohl in eine gute Richtung geht. Aber ich weiß mittlerweile, dass kurz vor knapp noch alles umgedreht werden kann, dass ich nicht davor gefeit bin, dass mir noch ein Ei ins Nest gelegt wird. Die Staatsjuristen, die ich kenne, denen ist nichts zu blöd.

"Den Knast bekommt man nicht aus der Jacke geschüttelt"

Wie war es, als das Tor aufging?

Der eine Beamte sagte zum anderen: Mach mal das Tor auf. Da hab ich mir gedacht: Das ist also das Codewort - wenn ich das vorher gewusst hätte (lacht)! Es war unzweifelhaft eine schöne Situation, aber sie war nicht so befreiend, wie sie hätte sein können. Den Knast bekommt man nicht aus der Jacke geschüttelt. Ich bin zwar physisch frei, aber ich habe fünf Jahre Bewährung. Und ich weiß, wie virtuos die Justiz in der Lage ist, Sachverhalte zu interpretieren, die nicht existieren. Ich habe keine Angst, bin jedoch alles andere als entspannt. Aber ich habe mich natürlich auf meine Familie gefreut, als das Tor aufging.

Was macht man am ersten Tag in Freiheit nach 17 Jahren Haft?

Ich habe meine Familie gesehen und meine Freunde. Es war schön und unspektakulär. Und es war der kleinbürgerliche Traum, den ich jahrelang zur Motivation in meinem Kopf gehabt habe - und der hat sich da erfüllt.

Sie haben in der JVA eine Ausbildung im kaufmännischen Bereich gemacht. Was werden Sie nun beruflich tun?

In der JVA Straubing macht niemand eine Ausbildung, die ihm zugutekommt. Du machst dort - mit Glück - eine Ausbildung, die in der Akte zwar zweifelsohne positiv erwähnt wird, die aber nicht deinen Bedürfnissen entspricht. Du machst, was der Statistik gerade Genüge tut und womit sich die Anstalt in der Presse profilieren kann. Jetzt versuche ich eben, diese betriebswirtschaftlichen Kenntnisse anzuwenden, werde zunächst für meinen Bruder arbeiten und ihn entlasten. Er hat eine schlimme, nervenraubende Zeit hinter sich - dagegen ging es mir ja gut: Ich hab 17 Jahre lang gesandelt und mehr oder weniger nichts getan. Er hatte Verantwortung, das rädert.

"Ich tue mich mit dem digitalen Wandel, der für mich ja deutlich radikaler ist, ein bisschen schwer"

Viele Langzeit-Gefangene wundern sich nach ihrer Freilassung über den technischen Fortschritt und andere Dinge, die sie noch nicht kennen. Wie ist das bei Ihnen?

Ich tue mich mit dem digitalen Wandel, der für mich ja deutlich radikaler ist, ein bisschen schwer. Ich war vorher schon kein Freund davon, freiwillig das Privateste zu entblättern und seine Daten einfach frei zu geben. Aber das scheint ganz normal zu sein. Die Generation meiner Eltern ist noch gegen die Volkszählung auf die Straße gegangen. Da muss man mit nostalgischen Gefühlen zurückdenken, wenn man ein liberaler Mensch ist. Aber heute tragen alle die Stasi in der Tasche. Das verstehe ich nicht. Auch diese große Unverbindlichkeit, die heute herrscht, stört mich. Natürlich wird die Welt schneller und die ständige Erreichbarkeit eröffnet auch die Möglichkeit der ständigen Absage. Aber meine Eltern haben einen Termin noch eine Woche im Voraus ausgemacht - und der saß. Heute musst du ja selbst zwei Minuten vor einem Termin noch zittern, ob nicht doch noch der Absage-Anruf kommt. Das ist doch irre!

In bayerischen Gefängnissen gibt es kein Internet, oder?

Ich gehe davon aus, dass die Anstaltsleitung Internet hat. Aber unter Gefangenen ist das quasi ein verbotenes Wort. Wir haben mit der Organisation Gefangenenmitverantwortung GMV eine Petition gestartet, im Rahmen derer jetzt ein Gesetzespassus geändert wurde, dass Telefonate und Kommunikation besser ermöglicht werden sollen. Ich kenne einen Mann, der aus Südamerika kommt und in Bayern zu zehn Jahren verurteilt wurde. In diesen zehn Jahren hat er insgesamt zehn Stunden mit seiner Familie telefoniert. Das war's. Das ist die Realität. Deswegen haben wir drei Jahre lang dafür gekämpft, dass Telefone in Zukunft für die Gefangenen zugänglicher sind.

Haben Sie je daran gedacht, ein Buch über Ihre Geschichte zu schreiben?

Eigentlich fehlt mir dafür das Sendungsbewusstsein. Außerdem schreibt doch heute jeder ein Buch - und who cares? Ich bin allerdings darauf hingewiesen worden, dass es Interesse gäbe. Also ist es nicht ganz ausgeschlossen. Vielleicht schreibe ich ein Buch für diejenigen, die in der heutigen eingeebneten Zeit noch ein restkritisches Denken haben, die wissen, dass Schein und Sein nicht viel miteinander zu tun haben.

"Was wir im Wiederaufnahme-Antrag vorbringen, hat Hand und Fuß - mal wieder"

Wie meinen Sie das?

Ich hätte meinen Staat - so wie er mir von Kindergartenzeiten ab verkauft wurde - ein einziges Mal gebraucht, er hätte sich einfach nur an seine eigenen Regeln halten müssen. Aber der Staat war nicht da. Im Gegenteil: Er tritt mir immer noch hinterher.

Ihre Anwälte Peter Witting und Carolin Arnemann haben den mittlerweile dritten Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gestellt. Wie zuversichtlich sind Sie?

Ich habe Erwartungen. Dass ich rachsüchtige und kleingeistige Justizangehörige kenne, ist das, was meine konkrete Welt ausmacht. Es entbindet mich aber nicht von der Sehnsucht, daran glauben zu wollen, dass es auch andere gibt, die ihren Job ernst nehmen und aufrichtig sind. Mittlerweile ist eine neue Generation am Werk, frisch von der Uni und idealistisch - also wer weiß? Wenn sich wirklich mal jemand ernsthaft der Sache annimmt und Fakten gelten lässt, dann bin ich zuversichtlich. Was wir vorbringen hat Hand und Fuß - mal wieder.

Was sind in Ihren Augen die wichtigsten Punkte im Wiederaufnahmeantrag?

Es ist erwiesen, dass Aussagen, die zu meinen Ungunsten gewertet wurden, erstunken und erlogen waren. Es ist erwiesen, dass Alibis absolut zerstört sind, die potenzielle andere Täter geschützt haben, die sicherlich kein schlechteres Motiv als ich gehabt haben. Das bringt das ganze Indizien-Kartenhaus der Staatsanwaltschaft zum Einsturz. Zumal kein einziges Indiz wirklich eines ist. Es war ein Geisterverfahren mit Geisterindizien. Das muss man erstmal hinkriegen!

"464000 Euro sind für ein Leben ein Witz"

Warum sind Sie dann Ihrer Meinung nach verurteilt worden?

Weil eben irgendeiner von der Straße musste. Es gab am helllichten Tag im Zentrum von München ein Kapitaldelikt. Und diese Wilfling-Truppe mit 120 Prozent Aufklärungsquote konnte doch nicht zulassen, dass genau dieser Mord nicht aufgeklärt wurde.

Angenommen, der Wiederaufnahme-Antrag hat Erfolg, das Verfahren wird neu aufgerollt und endet diesmal mit einem Freispruch. Was würde Ihnen das bedeuten?

Dann kann ich vielleicht damit anfangen, um meine Tante zu trauern. Das konnte ich bisher nicht. Und vielleicht kann ich dann aufatmen und locker lassen. Ich habe die tiefe Sehnsucht in mir, mal wieder runterzukommen und nicht mehr herumzuhüpfen wie ein galvanischer Frosch. Noch bin ich ein verurteilter Mörder und muss mich so schimpfen lassen, das ist kein schönes Wort.

"Ich würde gerne wieder über etwas Schönes staunen"

Wenn es so käme, stünde Ihnen in Bayern eine Entschädigung von 75 Euro pro Hafttag zu. Bei 6186 Tagen wären das knapp 464000 Euro.

Für ein Leben ist das ein Witz! Außerdem war mir Geld immer schon egal. Jeder, der mich kennt, findet das Mordmerkmal Habgier absurd. Aber es war halt notwendig, um die besondere Schwere festzustellen. Heimtücke und Habgier, das sind die zwei Klassiker, die gehen immer. Aber um auf die 400 000 Euro zurückzukommen: In etwa dieser Größenordnung bewegen sich die Schulden, die mir vom Staat für das Verfahren auferlegt wurden. Ich bin nämlich nicht nur sozial, sondern auch wirtschaftlich ruiniert. Ansonsten bedeutet mir diese Summe gar nichts. Hätte ich dieses Geld jetzt in der Tasche, würde mich das kein bisschen glücklicher machen. Wenn aber mein Kühlschrank voll mit Augustiner ist: Dann passt das.

Gibt es einen Wunsch, einen Traum, den Sie sich erfüllen würden, wenn all das tatsächlich einmal hinter Ihnen liegt?

Ich habe mal gesagt: Ich würde gerne wieder über etwas Schönes staunen - und damit habe ich es aus Versehen genau getroffen. Schließlich habe ich die letzten 17 Jahre lang über Schlimmes, Hässliches, Niedertracht und Unaufrichtigkeit gestaunt. Wie sich das dann äußert, ist vollkommen wurscht.