Verstorbener Papst
Briefwechsel zu Missbrauchspriester rückt Ratzingers Rolle in Fokus
22. Februar 2023, 5:34 Uhr
Nach Bekanntwerden eines Schriftwechsels zum verurteilten Wiederholungstäter Priester H. ist erneut eine Diskussion über die Rolle des verstorbenen Papstes Benedikt im Missbrauchsskandal der katholischen Kirche entbrannt. Die Betroffeneninitiative "Eckiger Tisch" forderte mit Blick auf die Briefe zwischen dem Münchner Erzbistum und Joseph Ratzinger die Herausgabe von Akten aus dem Herz der katholischen Kirche.
Am Dienstag hatten Correctiv und der Bayerische Rundfunk über den Schriftwechsel berichtet. Wie das Erzbistum München und Freising bestätigte, erteilte Ratzinger 1986 als Chef der Glaubenskongregation dem Skandalpriester in einem von ihm selbst unterschriebenen Brief die Erlaubnis, die Heilige Messe mit Traubensaft statt mit Wein zu feiern.
Das Erzbistum hatte zuvor um diese Sondererlaubnis gebeten und die Bitte damit begründet, dass der Priester unter Alkoholeinfluss Straftaten nach den Paragrafen 174, 176 und 184 des Strafgesetzbuches (StGB) begangen habe. Die Paragrafen behandeln sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen, sexuellen Missbrauch von Kindern und die Verbreitung pornografischer Inhalte.
"Der Brieffund belegt auch, wie wichtig die Auswertung von Akten wäre, die im Vatikan über Tausende von Missbrauchsfällen aus aller Welt gelagert werden", sagte der Sprecher der Betroffeneninitiative, Matthias Katsch, der Deutschen Presse-Agentur.
Doch die Kirche in Deutschland wie im Vatikan leiste Widerstand gegen externen Zugang und unabhängige Untersuchungen. "Sie ahnen, nein sie wissen, dass sich dort die Belege für Schuld und Verantwortung ihrer Bischöfe und Provinziale und Päpste findet", sagte Katsch.
Initiative fordert staatliche Aufarbeitungskommission
Ratzinger, der spätere und an Silvester vergangenen Jahres gestorbene Papst Benedikt XVI., kam dieser Bitte nach, wie ein Sprecher des Erzbistums bestätigte: "Es gibt dieses Antwortschreiben, das von Ratzinger unterschrieben wurde." Der verurteilte Täter wurde nach 1986 Pfarrer in Garching an der Alz - und missbrauchte dort wieder Kinder. Noch bis 2008 war er in der Gemeinde eingesetzt, inzwischen ist er suspendiert.
Die Initiative Sauerteig, die sich daraufhin in Garching gebildet hatte und die sich für die Aufarbeitung des Missbrauchs in der katholischen Kirche einsetzt, forderte am Mittwoch gegenüber Correctiv eine staatliche Aufarbeitungskommission.
Ratzinger-Biograf Peter Seewald sieht indes keinen Grund, die Rolle, die Ratzinger beim Umgang mit Missbrauchsvorwürfen in der katholischen Kirche einnahm, neu zu bewerten. Schließlich habe Ratzinger sich in seiner Aussage, nichts vom Vorleben des Skandalpriesters H. gewusst zu haben, auf eine Ordinariatssitzung des Jahres 1980 bezogen. "1986 war die Situation anders." Kirchenrechtler Thomas Schüller hingegen sieht in dem Brief einen Beweis dafür, dass Ratzinger mehr wusste, als er öffentlich einräumte.
Vor einem Jahr hatte ein Gutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) über sexuelle Gewalt im Erzbistum München und Freising für Wirbel gesorgt, weil Ratzinger darin persönlich Fehlverhalten in mehreren Fällen vorgeworfen wurde. Der Fall H. war in dem Gutachten der prominenteste. Dass Ratzinger seine Angaben, er habe als Münchner Erzbischof an einer Sitzung, in der es um den versetzten Wiederholungstäter ging, nicht teilgenommen, später korrigieren musste, machte weltweit Schlagzeilen und dürfte das Andenken an den bayerischen Papst nachhaltig beschädigt haben.
Kanzlei will Schriftwechsel nicht kommentieren
Auch das Fazit des "Eckigen Tischs" fällt vernichtend aus: "Ratzinger war in jeder Hinsicht Repräsentant des Systems, dem Tausende von Kindern und Jugendlichen in aller Welt zum Opfer fielen", bilanzierte Katsch. Ratzinger habe stets mehr Empathie für die Täter als für die Opfer aufgebracht. "Er hat das Wohl der Kirche und ihrer Missbrauchspriester über das Kindeswohl gestellt. In diesem Fall, wie in vielen anderen."
Der Sprecher der Reformbewegung "Wir sind Kirche", Christian Weisner, sagte: "Dass Ratzinger vor einem Jahr noch versucht hatte, sich zunächst unwissend zu stellen, damit hat er seinen Ruf als "Mitarbeiter der Wahrheit" - das war sein Wahlspruch als Bischof - selber zerstört." Weisner betonte: "Es gibt viele Indizien dafür, dass es damals gängige Praxis war und vielleicht noch immer ist, straffällige Priester immer wieder neu einzusetzen und ihnen damit Gelegenheit für weitere Verbrechen zu geben. Und es ist entlarvend, dass Ratzinger auch als Kardinal in Rom noch in dieser Weise gehandelt hat."
Die Kanzlei, die Ratzinger - beziehungsweise seinen noch nicht bekannten Rechtsnachfolger - in einem Verfahren vor dem Landgericht Traunstein in dieser Sache vertritt, wollte den Schriftwechsel nicht kommentieren. Eines der Opfer hatte H. verklagt und wegen Vertuschungsvorwürfen auch das Erzbistum München sowie die früheren Kardinäle Ratzinger und Friedrich Wetter. Am 28. März soll es zur Verhandlung kommen. Allerdings ruht das Verfahren gegen Ratzinger, bis klar ist, wer seine rechtliche Nachfolge antritt.